Herbststürme

Innerhalb weniger Wochen ist der Sommer ein gefühlter Winter geworden. Definitv kein T-Shirt-Wetter, obwohl ich immer wieder Menschen sehe, die beim Anzeichen eines Sonnenstrahls, mit einem T-Shirt bekleidet durch die Straßen laufen. Allein der Anblick lässt mich innerlich erschauern. Die Bäume verlieren ihre Blätter, die goldbraun oder andersfarbig auf den Wiesen und den Straßen herumliegen und warten, weggekehrt und aufgesammelt zu werden. Der Wind bläst mal mehr mal weniger.

Ich bin in dieser Jahreszeit gerne zuhause. Ein richtiger Stubenhocker. Bei mir sind es die Temperaturen, die mich im Haus halten. Andererseits motivieren mich Aktivitäten, wie Tanzen, Filmabend, Bibelgesprächskreis und Gemeindeleben, doch rauszugehen. Ich und meine Wohlfühlzone.

Am vergangenen Wochenende gab es die Samstagsmahlzeit, die mich wieder zu unseren Freunden in der Schießmauer führte. Es sind wenig Besuche, die ich außer der Reihe habe. Im Sommer sind die Menschen offener und auch die Türen stehen offen, aber der Sommer ist vorbei. Darum klopfte ich an die Türen, und freute mich, wenn ein Gesicht heraus schaute. Doch nicht alle Türen wurden geöffnet. Es ist eine Zeit, wo einige sich zurückziehen, um Ruhe zu haben und andere, die es gerne gesellig haben, was dann unter Umständen zu Exzessen führt, wie ich heute erfuhr. Manche können längst nicht mehr kontrollieren, wieviel sie trinken. Das macht die Nacht kurz und erst gegen Nachmittag ist sie zu Ende.

Ich führte ein paar kurze Gespräche über Fußball, Zahnimplantate, dringende Wohnungssuche, und vor allem über den Zustand der Bewohner, die noch schliefen. Ich erfuhr, dass es Auseinandersetzungen gab, nicht nur verbal. Je mehr Alkohol, desto öfter gibt es Ärger. Koinzidenz oder Kausalität? Eher letzteres.

Die russischen-ukrainische Freundschaft lebt in Herrenberg. Man hält zusammen und lebt die Tage, wie sie kommen. Ich habe das Gefühl, dass sie sich gut organisieren in ihrem Mangel. Alle Bewohner nahmen die Mahlzeit gerne entgegen. Ich wünschte auch einen guten Appetit und Gottes Segen. Da einige Bewohner nicht in der Lage waren, zu öffnen, gab ich die übrigen Samstagsmahlzeiten in die Hände eines Bewohners, der sie dann später weitergeben wollte. In der Regel funktioniert das. Die Schießmauer ist ein sozialer Mikrokosmos.

Was ich mich gefragt habe, ist, wie die Bewohner der Schießmauer diese Herbstzeit erleben? Diejenigen, die sich nicht mit Alkohol und/oder Drogen abschießen. Die das ganze mit klarem Verstand erleben müssen, die sich ihrer Situation bewusst sind, wie halten die das aus? Einerseits leben sie in Umständen, unter denen niemand von uns Aussenstehenden je leben könnte. Es ist keine Umgebung, in der wir Normalos leben möchten. Die Schießmauer gehört längst eingestampft. Das wissen alle, die damit zu tun haben. Hauptamtliche der Stadt Herrenberg, die Kirchengemeinden, sogar die Besucher des Fitnesscenters des VfL Herrenberg.

Allein, der Wille fehlt. Die Stadt Herrenberg unter dem scheidenden Oberbürgermeister Spriessler hat sich nicht gerade hervorgetan, etwas an der Situation der Bewohner zu ändern oder zu verbessern. Der Gemeinderat und zuständige Gremien, tun, wenn überhaupt, nichts. Und wir als Verein Freunde e.V. werden nicht ernst genommen. Dabei strebten wir sogar Kooperationen mit größeren Trägern an. Herrenberg ist eine gutbürgerliche Stadt. Alles geht seinen rechtschaffenen Gang. Die paar Obdachlosen am untersten Ende der Nahrungskette werden also im besten Fall weiter ignoriert. Soziale Teilhabe in einer Stadt, wie Herrenberg ist ein Fremdwort für die Bewohner. Die einzige Teilhabe ist der Gang zur Postbank und zum Kaufland. Change my mind! Und ob der neue Oberbürgermeister Nico Reith die Probleme Schießmauer und Schießtäle und der anderen prekär lebenden Menschen zu Chefsache machen wird, bleibt abzuwarten.

Als gläubiger Christ habe ich die Hoffnung in Menschen nicht so sehr, wie in Jesus Christus. Wir müssen für diese Menschen beten. Zum einen, für die Verbesserung ihrer Situation und letztlich dafür, dass sie gerettet werden.

Jeder Mensch ist ein Geschöpf Gottes. Wir mögen noch so sehr vor Gott fliehen wollen, ein Leben leben, das nichts mit Gott zu tun haben will, und doch will Gott uns nicht verwerfen. Jeder Mensch kann zur Gotteserkenntnis kommen und von falschen Wegen umkehren.

Dafür habe ich Hoffnung. Wenn jedoch unser Dienst nur darin besteht, eine Mahlzeit in der Woche zu bringen und Bitten nach Wohnung oder anderer Hilfen an die Stadt verweisen müssen, die eh nichts macht oder machen kann, dann ist das immer wieder frustrierend. 

Wie gut traf es sich, dass ich in der Woche darauf, wieder ein Samstag, den Kandidaten für das Oberbürgermeisteramt, Nico Reith traf und ihm persönlich mein Herzensanliegen schilderte, etwas für die Bewohner der Schießmauer zu tun. Ich nannte es den Schandfleck von Herrenberg. Ich überreichte ihm auch einen Flyer, von dem ich hoffe, dass er ihn anspricht. Auf Plakaten liest man Partner des Ehrenamts. Was auch immer damit gemeint ist.

Später hatten wir ein weiteres Treffen mit Diana Kobrow. Einer weiteren Kandidatin, um mit ihr die Schießmauer zu besuchen. Ohne Essen wollte ich jedoch nicht kommen, also kaufte ich auf dem Markt zwei Dinkelbrotlaibe bei dem Stand der Bäckerei Zander und Schinkenwurst beim Stand der Metzgerei Fischer.

Wir trafen uns und fuhren zur Schießmauer und ich erlebte fast ein Deja-vu, denn es waren die gleichen Menschen wach und aufgeräumt, die anderen waren unabkömmlich oder indisponiert, wie in der Woche davor.

Anders als Frau Kobrow konnte ich die Lage der Bewohner keineswegs positiv bewerten. Ok, sie leben nicht auf der Straße oder unter einer Brücke. Wie toll.

Ja, ich habe immer noch Hoffnung. Aber menschlich gesehen, ist diese Hoffnung klein. Aber für Gott ist nichts unmöglich. Er kann sogar das Herz der Menschen anregen und sie schauen auf diese Menschen, die einfach durch die Maschen der einst hoch gelobten sozialen Sicherungssysteme fallen.

Und die richtigen Herbststürme haben wir noch gar nicht gehabt, wenn es mal richtig kracht und die Träume zerplatzt sind.