Beziehungsstatus: Es ist kompliziert

Wir alle sehnen uns nach etwas Ruhe. Nach Frieden. Bloß keine neuen Hiobsbotschaften. Der Sonntag, unser Wochenabschluss, war ein von Ruhe und Frieden geprägter Tag. Wunderschönes Wetter lud uns zum Spaziergang ein.  Und weil es Sonntag ist, finde ich einmal wieder Zeit, ein paar Gedanken zu niederzuschreiben. Ich hatte wieder mal das Bedürfnis, meine und unsere Erlebnisse zu schildern. Wie sehr sie uns beschäftigen. Wie sehr sie uns bereichern. Und wie sehr sie uns manchmal auch belasten. Aber dazu später mehr.

Gestern war wieder die Samstagsmahlzeit angesagt. Herr Gerullis hatte Linsen und Spätzle auf dem Menu. Schmeckt lecker und sorgt für zufriedene Gesichter. Wir „Ausfahrenden“ und Selbstabholer und auch Gerry, der die Kontrolle hat, waren schon vor 12 Uhr in der Tübinger Straße vor dem Ladengeschäft.

An manchen Tagen ist es etwas chaotischer oder hektischer, weil alle entweder schnell zu ihrem Essen kommen oder die Essen schnell ausliefern wollen. Und schnell in Kombination mit punktgenau kochen, vor allem, wenn es eine One-Man-Show ist, bedeutet oft Hektik. Wir sind ja nicht die einzigen Kunden. Danke an Herr Gerullis. Danke auch an dieser Stelle an die Spender, die diese Essen möglich machen.

Ich war richtig gut drauf. Am Morgen ging ich auf den Markt, danach war das Brezelfrühstück in der Gemeinde, bei der sich meist ältere Männer treffen, um Gemeinschaft zu haben. Es war eine sehr wertvolle Zusammenkunft. Ich wünschte mir, dass andere Männer ebensolche Gemeinschaft haben könnten. Vor allem auch jüngere Männer. So wertvoll.

Lisa war währenddessen oben im Saal, wo ein Frauentag stattfand, der bestimmt ebenso reichhaltig war. Anders. Weiblicher.

Wir Männer waren gegen 11 Uhr fertig. Mein Sohn kam, um mich abzuholen. Wir hatten diese Woche einen echten Grund, uns zu freuen, und sein Kommen war ein sichtbares Zeichen der Gnade, fast eines Wunders.

Nun musste ich Brot abholen um es anschließend bei der Metzgerei Gerullis zu verteilen. Hier zeigte sich, wie gutes Zeitmanagement funktioniert. Ich bekam meine Essensportionen für die Schießmauer, andere bekamen ihre Rationen für Bondorf, andere für Herrenberg. Dann fuhr ich weiter zur Schießmauer. Wieder wusste ich nicht, was mich erwarten würde. Die erste (schwierige) Woche nach dem Zahltag war vorbei. Die darauffolgende Woche ist also eher ungewiss. Die einzig positive Sicherheit war, dass Renè im Fischerhaus war, wo er endlich seine Therapie absolviert. Er hat sich seiner Sucht gestellt und den ersten Schritt getan. Darüber war nicht nur Lisa froh.

Die Besuche, die ich alleine in der Schießmauer mache, sind anders. Lisa ist eine Frau, die Beziehung schaffen kann. Ich bin ein wenig distanzierter, wenngleich mir die Bewohner doch auch am Herzen liegen. Das Haus war belebt, einige waren schon draußen, andere kamen nach und nach, ohne dass ich klingeln oder klopfen musste. Die Dankbarkeit der Bewohner ist proportional zu ihrer Bedürftigkeit.

Heute war wieder ein Tag mit einer eigenartigen Stimmung. Natürlich ist dieser Ort ein Brennpunkt. Er dürfte so gar nicht existieren. Es kann nicht ausbleiben, dass die Bewohner sich aneinander reiben, dass Konflikte entstehen, ausbrechen, eskalieren. Dieser Ort ist kein Ort, den man sich aussucht. Er wird einem zugewiesen. Und dennoch ist dieser Ort manchmal für Bewohner ein Rückzugsort. Wo soll man denn hingehen? Die kalte Jahreshälfte hat begonnen, die Tage sind kurz und dunkel. Draußen hält sich doch niemand gerne auf.

Das Geld ist knapp. Wo würde man hingehen? 5 Dosen Bier oder eine Halbe in der Gaststätte. Die Entscheidung ist klar. Sehr oft kommen manchmal Gäste von außerhalb, die hier in Ruhe ihren Alkohol in Gesellschaft trinken können. Je mehr Alkohol, je mehr andere Rauschmittel, desto wahrscheinlicher wird eine Eskalation. Ist doch logisch. Und trotzdem bleiben Konsequenzen seitens der Bewohner aus. Sind es doch die einzigen sozialen Kontakte.

Früher, als ich noch auf Facebook war, konnte man manchmal den Beziehungsstatus ‚es ist kompliziert‘ lesen. Er bedeutete vielerlei und gar nichts. Manche machten sich einfach nur wichtig. Er war auch nicht ganz so trostlos, wie ‚auf der Suche‘ oder ‚Single‘. Was irgendwie das Gleiche ist, wie einsam.

Ich spürte eine Einsamkeit. Wenn ich die Bewohner treffe, kurze Worte wechsle, in ihre Gesichter schaue, in die Augen, dann spüre ich die Einsamkeit, die Hoffnungslosigkeit. Da ist keine Freude mehr. Für viele ist der Mittelpunkt ihres Lebens die Droge Alkohol. Ist er da, kann man den Tag überstehen. Ohne den Zahltag wäre das Elend vollkommen und gleichzeitig wünsche ich mir, dass dieser Tag kommen möge, an dem jeder einzelne aufwachen würde.

Nicht jeder Bewohner ist, wie ich schon öfter schrieb, in der Sucht. Es gibt Bewohner, die versuchen, ihre Selbstachtung, ihre Ehre zu bewahren. Sie können nicht trinken. Sie erleben dies ganze Elend, die unwürdigen Zustände vollkommen nüchtern. Sie ertragen etwas, das unerträglich ist. Dieser Ort ist natürlich extrem. Andernorts wird auch getrunken, werden Drogen konsumiert, um die eigene Situation zu transzendieren. Zu betäuben. Andernorts hat man auch Sehnsüchte. Andernorts geht man auch zur Arbeit (ja auch in der Schießmauer gibt es Berufstätige). Andernorts ist das Leben ebenso trostlos. Wie singen die Eagles in Hotel California? „But you can never leave“

Ich wurde in ein Gespräch, eher einen Monolog, verwickelt, in der mir eine aktuelle Episode erzählt wurde. Ich konnte nichts sagen. So was, wie: Ist doch schade. Tut mir leid. Denn die Situation ist nicht gut. Wie sich einige Akteure verhalten ist nicht richtig. Alles läuft falsch. Da kann nur dieses Ergebnis herauskommen. Ich sagte nichts. Ich durfte auch nichts sagen, was irgendwie fromm geklungen hätte. Gut, dass ich nach Hause musste.

Zuhause begab ich mich an das Gulasch, das ich schon am Freitag begonnen habe, zu kochen. Das Finish ist wichtig. Nicht der Weg des Kochens. Ich schmeckte dieses und jenes ab und war zufrieden. Das Gulasch war für Melis 50er-Feier, die sie sich gewünscht hatte. Wir durften in den Jugendräumen der SV feiern. Tags zuvor hatte Lisa mit Hilfe von Deborah den Raum geschmückt. Ich war für das Essen zuständig. Gulasch, Birkel-Spätzle!!, Kartoffelsalat von Gerullis. Sabine würde einen Bohnensalat bringen. Lisa hatte einen Nachtisch zubereitet.

Meli hatte also ihre Freunde eingeladen. Ingesamt etwa 12 Leute, darunter Gerry, Lisa, Elke und mich. Kurz vor fünf kam Sabine mit dem versprochenen Bohnensalat. Wir warteten und waren gespannt, ob Meli kommt, und vor allem wie sie kommt und witzelten ein bischen darüber. Es sollte Melis erstes Geburtstagsfest werden. Ihr erstes Fest mit 50 Jahren.

Entsprechend feierlich wollten wir es gestalten. Wir stellten Achenbecher bereit. Was nicht sehr feierlich klingt, aber sie gehörten dazu. Da alle ihrer Gäste Raucher sind, würde viel Zeit vor dem Jugendcafe verbracht werden.

Um sechs waren die Nudeln fertig. Lisa begrüßte die Gäst am Tisch, betete für sie und Meli war sichtlich gerührt, als auch sie ein paar Worte zu ihren Gästen sagte. Beim Essen war es sehr ruhig, denn – ohne mich selbst zu sehr zu loben – das Gulasch war extrem lecker. Es war genug für alle da. Manche holten sich eine zweite Portion. Lisas Nachtisch musste nicht arg angepriesen werden, obwohl, Meli musste erst überzeugt, fast schon genötigt werden. Im Hintergrund lief Musik von meiner Playlist über den Bluetooth Lautsprecher, den ich mitgebracht habe. Natürlich ist meine Playlist exzellent, aber sie traf nicht wirklich den Geschmack der Gäste. Musik war eher als Hintergrund gedacht. Später ließ ich ließ dann trotzdem ein paar Lieder von Thomas laufen, My Boy Lollipop oder andere Lieder. Über Geschmack lässt sich bekanntlich sehr gut streiten. Am Ende die Gruppenfotos.

Der Abend erinnerte irgendwie an unsere früheren Friends Times vor Corona. Ausschließlich Gäste aus Herrenberg. Alle kannten sich und es wurde munter parliert. Lisa und ich sprachen darüber, wie gerne wir wieder unsere Friends Time machen würden. Wie wertvoll diese kleinen Runden sind. Und auch für das Wort Gottes ist immer wieder Raum. Wir müssen einfach weiter säen.

Gerry hatte wieder ein besonderes Geschenk. Plural. Geschenke für Meli. Ich hätte mir jedoch gewünscht, es wäre mehr gewürdigt worden, was angesichts der doch stärker und stärker alkoholisierten Gäste unrealistisch wurde. Warum sollten sie auch bei einem Fest nüchtern bleiben? Es wäre für uns schön, aber für die Gäste wäre es nicht stimmig. Egal, ich will ja auch nicht moralisieren. Es war schön. Für Meli war es etwas Besonderes, und genau das sollte es sein.

Rückblickend möchte ich noch den Brunch in der Woche zuvor ansprechen. Er war nicht ganz so gut besucht, denn ein Großteil der Gästekarawane hatte eine andere Einladung angenommen. Vielleicht gibt es eine gute Konkurrenz. Wir haben wieder ein mehrgängiges Menu serviert. Wir hatten wieder viele Helfer. Elke und Thilo spielten Lieder. Thilo hielt eine Andacht. Wie halt Brunch sein sollte. Doch irgendwie hätte ich hier gerne wieder die einfachen Brunches, mit Brötchen, Wurst, Käse, Joghurts, Eiern, und am Schluss eine Suppe. Ich halte den Aufwand insgesamt für zu hoch. Schauen wir mal, wie sich das noch entwickelt.