Vesperkirche

Wie immer, wenn es die Vesperkirche gab, waren wir am Samstag mittag bei der Schießmauer.

Und wie jedesmal klopfen wir freundlich an und kündigen das Essen an. Wir reden mit Menschen, manche lernen wir erst kennen, anderen sind wir vertrauter, teilen uns unsere Sorgen, unsere Gedanken. Es geht nicht immer um die aktuelle Situation. Wir erzählen uns Anekdoten, Erinnerungen, und lachen auch ein ums andere Mal. Und trotzdem kommen wir auch auf die zum Teil erbärmlichen Umstände zurück. Wir hören uns das an, wollen trösten und Hoffnung geben. Und wissen doch auch, dass ganz vieles direkt mit der Sucht verbunden ist. Und mit Sucht ist das Elend verbunden. Elend gehört zur Sucht. Andere sind wiederum nur einfach alt und schwach und schaffen es kaum zur Tür. Woche für Woche sehen wir, wie es weiter bergab geht.

Genau angrenzend, wie zum Hohn, ist das pralle Leben: Das VfL Fitness Center. Ok, auch Reha Sport. Aber das ist allemal besser, als das Dahinsiechen nebenan. Skurril, wenn nicht surreal. Das Laufband, das Ergometer mit Blick auf die Container. Vermutlich darf man nicht Container sagen, vielleicht heißen sie viel besser. Blick auf die Wohnoase: Hier ums Leben rennen oder treten: Nur nicht dort enden.

Unsere zum Teil jahrelangen Beziehungen und Freundschaften können die Not nicht lindern. Was tun wir eigentlich? Hier und da ein Wort, ein Gespräch, ein Gebet. Trost? Für was eigentlich? Verlängern wir nicht das Leiden? Verlängern Hilfen der Stadt und der Kirche und von NGOs Leiden? Bitte diesen Gedanken nicht zu Ende denken.

Natürlich ist ist es unsere Pflicht, genau dort zu sein. In den Slums von Herrenberg. Die Stadt könnte es verbieten, indem sie Orte wie diese zum Seuchengebiet erklären würde. Keiner kommt rein, keiner raus. Wobei Letzteres auch ohne Quarantänestatus schon stimmt. Jim Morrison, von der Boygroup The Doors, hätte es sogar noch drastischer ausgedrückt: Keiner kommt hier lebend raus. Endstation Schießmauer.

Wer landet hier? Es sind Männer. Sie haben eine Biographie. Hatten zum Teil Familie, hatten Kinder, ein Leben. Und dann ging irgendwas schief. Vielleicht kam das Leben dazwischen. Das „reguläre“ Leben langsam oder abrupt zu Ende. Leben auf der Straße. Oder prekär. Wo ist der Unterschied?

Das Rennen, den Wettbewerb schon kurz nach oder vor dem Start verloren. Und ja, sicher auch selbst schuld. Falsche Entscheidungen. Schwäche. Das Handbuch des Überlebens in einer sogenannten Zivilisation nicht gelesen? Keine Broschüre „Drastische Konsequenzen“ erhalten?

Es gab ein Gulasch, sehr lecker, wie uns gesagt wurde, mit Salat. Nachzügler kamen und freuten sich über dieses wunderbare Essen. Ein Gespräch mit einem jungen, russischen Mann ergab sich. So jung und so gefangen, versklavt. Wir versuchten, ihm Mut zu machen. Hoffnung auf ein anderes Leben. Lisa durfte für ihn beten. Für Jesus gibt es keine hoffnungslosen Fälle.

Das sind sie also, die Slums von Herrenberg. Wo die Drogensüchtigen und Alkoholiker und die Gescheiterten leben. Der Bewohner, der die Grünanlage noch so schön gestaltet hat, dass es nicht ganz so trostlos aussieht, starb ja leider vor einigen Wochen. Momentan fühlt sich niemand berufen. Momentan ist auch keiner in der Lage. Es wird sich so schnell nichts ändern. Vielleicht schafft es einer, nach seinem 50. Geburtstag, der bald ist, nach Hirsau zu gehen. Entgiften und dann hoffentlich eine Therapie. Aber das ist noch nicht sicher. Ein kleines Fünkchen Hoffnung. Wir arbeiten daran mit.

Es ist wie ein Hamsterrad, das sich immer schneller dreht. Stolpern darf man nicht. Stolpern verboten. Weiter runter geht auch nicht. Doch wie kann sich etwas ändern? Richtige Wohnungen sind für die meisten nicht in Sicht, auch für die, die nicht akut süchtig sind. Die anderen haben gar keine Chance. Die Stadt kann ihnen keine Perspektive bieten. Keine Diskriminierungspunkte. Keine Lobby. Doch wie soll sich jemand ändern, bzw. wie soll jemand seine Situation ändern, ohne Perspektive? Ohne Hoffnung. Wir wissen, dass es Hoffnung mit Jesus gibt. Aber ohne Hilfestellung, ohne echte Sozialarbeit, ohne echtes Engagement ist jeder Bewohner dieses Ghettos verdammt. Sozialtherapeutische Maßnahmen, Wohnraum, Arbeit. Nicht vorhanden.

Die Stadt Herrenberg möchte ich hier gar nicht anklagen. Diese Schießmauer, dieses Schießtäle sind Notlösungen. Eigentlich nur als Übergang gedacht. Jetzt sind es Dauerlösungen. Prekäre Lebensverhältnisse sind ein gesamtgesellschaftliches Problem. Es gibt keine Milliarden für diese Menschen. Es gibt sie für vieles andere, aber nicht für Männer, die gescheitert sind. Diese Hotspots gibt es überall. Das entlastet Herrenberg. Es gibt Menschen, die sich darum kümmern, in Herrenberg Not zu lindern. Aber wenn nichts da ist, was man anbieten kann, sind auch diese engagierten Menschen nicht in der Lage, richtig zu helfen. Corona macht es nicht leichter. Die Stadt besucht die Menschen. Anders als manche caritativen Stellen, die auf Besucher warten und nicht genau dort hin gehen. Deshalb ist die Vesperkirche gut, deshalb ist der Brunch gut und unsere Friends Time. Sie alle bieten etwas an, wenden den Blick nicht ab.

Hilfe ist möglich, auch wenn der Berg an Problemen sehr hoch ist. Jeder Mensch ist wertvoll. #AllLivesMatter

Ich möchte hier schließen und mit Paulus Worten an die Korinther sagen: Die Gnade des Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen! Amen