Vertrauen

Unsere Freunde lieben die Samstags-MAHL-Zeit. Keine Frage. Sie erwarten nichts und sind einfach überrascht, dass wir Woche für Woche kommen, um ihnen etwas zu schenken. Manche freuen sich mehr, manche weniger. Aber diejenigen, die in echten Nöten sind, zeigen es nicht nur, sie sind dankbar.

Kleine Herrenberg-Tour. Ausgangspunkt Metzgerei Gerullis. Anna hat gekocht. Anna ist für das leibliche Wohl verantwortlich. Alleine kochen. 40 Essen waren es heute. Zum Glockenschlag 12 Uhr versammeln sich wieder Männer und Frauen in der Tübinger Straße und empfangen das leckere Essen. Putengeschnetzeltes mit Reis und Salat. Die Samstags-MAHL-Zeit wird über Herrenberger Kirchengemeinden finanziert. Eine Spenderin hat heute einfach Kuchen gebacken und eingepackt. Dieses kleine Extra werden unsere Freunde sehr schätzen.

Wir fahren zur Schießmauer. Ein wenig Routine hilft uns heute. Wir wollen ja beides, das Essen zu den Bewohnern bringen und wieder Gespräche führen. Fragen, wie es geht oder ob sie etwas brauchen. Es ist Monatsende. Normalerweise ist das Geld weg und jede Unterstützung hilft. Diesen Monat gab es aber schon „Gehalt“. Tabak lag auf dem Tisch. Die Freude über das Essen war trotzdem vorhanden. Die Gesichter hellen sich auf. Lisa sprach mit den Männern, die noch nicht glauben können, dass die Hilfe kommt und sie eine richtige Wohnung finden. Jemand erzählt, dass er schon dreieinhalb Jahre hier wohnt. Sein Sohn ist heute zu Besuch. Der Mann, in den Vierzigern, sagt, er sei seit drei Monaten clean. Wir loben ihn dafür und erklären, wie wichtig das für seinen Sohn ist, wenn er sein Leben wieder in den Griff bekommt. Dass sein Cleansein ein wichtiger Schritt ist, um eine Wohnung vermittelt zu bekommen. Um Arbeit zu finden. Hoffnung.

Wir sagen ihm, das gesamte Versagen sei für unseren Vater kein Grund, ihn nicht zu lieben. Wir sagen ihm, dass er die Liebe Gottes anhand seiner eigenen Liebe zu seinem Sohn verstehen könne, und wie er auch seinem Sohn alles verzeihen würde, aus Liebe. Cleansein ist die Grundlage für eine Familie, die Bestand haben soll.

Während hier ein Mann damit kämpft, clean zu sein, wird dort noch getörnt, weil das jeden Monat so abläuft. Es ist kein Ritual, es ist Routine. Das Hamsterrad, in dem andere noch strampeln, weil es keine Alternative oder Perspektive gibt. Es ist Erlösung für kurze Zeit, wenngleich chemisch und absolut verkehrt. Es ist kein Ausweg. Sie sehen noch keinen Ausweg. Es fehlt das Vertrauen.

Wir brauchen nicht für jedes Essen diesen Zuspruch. Es gibt Leute, die einfach nur die Tür aufmachen und nur kurzen Small Talk führen. Zu beschäftigt? Noch müde? Dann gibt es gibt Leute, die wir ansprechen, weil wir gehört haben, dass ihnen die Polizei den Schlüssel abgenommen hat, mit denen sie die Müllbehälter öffnen können, um Pfand zu sammeln. Warum muss die Polizei ihnen den Schlüssel abnehmen? Auf welcher Rechtsgrundlage? Andere klagen, dass ihnen Strafen aufgebrummt wurden, wegen Corona. Was soll das? An der Haltestelle Hulb. Die Strafen bedeuten, dass ihnen 50% der Existenzgrundlage weggenommen werden. Das dämmt die Pandemie sicherlich ein. Mit anderen spreche ich über den VfB, über Hertha. Das sind ihre Themen.

Vertrauen schaffen.

Diese Leute ticken anders. Anders als wir alle. Die Landtagswahl und die Bundestagswahl interessiert hier niemanden. Keine grossmundigen Versprechen für dieses Klientel. Sie interessiert nicht, ob sich die Kirche politisiert oder ob die Politik sich emotionalisiert. Die Politik interessiert sich nicht. Die Kirchen? C’mon, man. Diese Menschen kämpfen täglich ihren hoffnungslosen Kampf. Am Ende werden sie verlieren, wenn Alkohol, wenn Drogen sie in der Sklaverei gefangen halten. Sie brauchen keine gendergerechte Sprache oder Hygienekonzepte oder Klimaneutralität. Parallelwelten, ganz klar.

Ich las heute einen Beitrag eines Pfarrers, der das Wahljahr 2021 thematisierte. Der Beitrag hatte nichts mit der Realität dieser Menschen zu tun. Ich las den Artikel mit einem eigenartigen Gefühl. Ich fand, er stellte eine moralische Überlegenheit zur Schau und benutzte ein paar Bibelsprüche, um letztlich eine politische Agenda zu verkünden. So lebt jeder in seiner eigenen Blase. Es ist nur eine Täuschung. Ja, es gibt Wahlen und ja, es wird sich vermutlich nichts ändern. Hier und jetzt sind Menschen in Not. Nicht nur materiell, sondern auch spirituell. Diese spirituelle Not ist viel existenzieller, durchdringt die ganze Gesellschaft, aber der Theologe politisiert. Hat die Kirche, die Religion keine Antworten mehr auf existenzielle Fragen? Weil die Guten wieder gewählt werden, wird sich an der Realität nichts ändern. Das Klima wird sich natürlich verändern. Die Guten werden weiter zu den Guten gehören. Das ist mir zu wenig Substanz. Die Not wird bleiben.

Ich widerspreche, wir brauchen absolut keine theologische Debatte über den richtigen Umgang mit Evangelikalen oder Klimaskeptikern oder (igitt) Trump-Wählern. Weil das in der Konsequenz Ausgrenzung bedeutet. Das ist das Niveau Cancel-Culture. Und das sind neomarxistische Strategien. Wir brauchen keine Theologen, sondern echte Christen, die in die „Slums“ gehen, Menschen tröstend in den Arm nehmen, Menschen aus dem größten Elend holen: ein Leben ohne Gott zu leben. Menschen, die Jesus verkünden. Hoffnung geben.

Eine theoretische Barmherzigkeit ist für mich virtue signalling. (demonstrative Zurschaustellung von Tugend und Moral)

Echte Barmherzigkeit wünschte ich mir. Vielleicht erwarte ich zu viel. Was manche nicht leisten können, müssen, nein, dürfen andere ausfüllen. Man macht sich schmutzig. Ok. Und man fühlt sich manchmal komisch, wenn man durchschaut wird, wenn hinter die Maske geblickt wird. Doch das ist gut. Das ist genau richtig.

Es ist aber keine Mission. Wir sind keine Organisation, sondern einfach nur Menschen, die durch Glauben ein neues Leben gefunden haben. Uns vereint die Liebe zu allen Menschen und besonders zu Menschen, die ihr Leben auf gut deutsch verk…t haben. Wir lieben Sünder, weil auch wir Sünder sind. Wir lieben unsere Freunde von der Schießmauer und anderswo und unsere „anderen“ Freunde, die Brüder und Schwestern sind. Wir versuchen, unsere Feinde zu lieben. Wir lieben das Leben, weil es ein Geschenk von Gott ist. Das Leben in seiner ganzen Fülle. Wir wünschen jedem so ein Leben. Es kann nicht ein Leben in Zwängen sein, denn wir sind das Volk (Israel), das Gott aus der Sklaverei geführt hat. Es gibt nur die Gebote, denn sie sind die Grundlage für ein Leben in der Gemeinschaft. Jesus Christus, Gott, kam in die Welt, um uns zum Vater zu führen. Und Jesus würden sie heute, wie damals als Spalter bezeichnen. Dabei wissen wir, die ihm nachfolgen, dass es genau umgekehrt ist. Wir wollen Freunde sein. Wir wollen Vertrauen, dass Jesus Menschen berührt. Keine politische Agenda.

Ich hoffe, ich bleibe treu. Meinem Gott und meinen Freunden. Ich hoffe, ich wachse in meinem Dienst, den ich voller Freude leiste, denn wir bringen Hoffnung wo keine Hoffnung ist. Es ist kein leichter Weg, den wir alle vor uns haben.

Am Ende steht der Tod. Das ist hoffentlich noch in weiter Ferne. Doch ich wünsche mir, dass viele unserer Freunde dann in der Ewigkeit sind und ich sie begrüße oder sie mich. Mit einem Lächeln. In der Zwischenzeit versuchen wir frei zu werden. Suchtfrei. Und heil. Und dann leben.

Vertrauen