Nichts für schwache Nerven

Geschätzter Leser dieses Blogs, in den vergangenen Monaten habe ich immer wieder versucht, Einblicke in die Arbeit unseres Vereins, und unserer ehrenamtlichen Arbeit zu dokumentieren. Für mich, für unsere Freunde und für sie. Es gab viele schöne Momente, es gab viele traurige Momente. Es gab Zeichen der Hoffnung.

Heute durften wir für die Samstags- Mahl – Zeit Essen verteilen. 12 Uhr trafen wir Johannes und die anderen Freiwilligen, die Essen verteilen. Es ist ein kurzes, wohlwollendes Hallo, dann ziehen wir auch schon los. Lisa und ich waren für unsere Schießmauer eingeteilt und freuten uns auf die Menschen, die wir schon so lange begleiten.

Es sind Gestrandete. Schiffbrüchige. Nicht irgendwelche Touristen auf Kreuzfahrt. Hier sind Menschen, die die Überfahrt auf dem Unterdeck verbringen mussten. Das Geld, alle Ersparnisse gingen für das Ticket drauf, das sie in die neue Welt bringen sollte. Stattdessen sank das Schiff. Mit ihm sanken auch die Träume und Hoffnungen. Das neue Leben endete jäh. Sie wurden zwar gerettet und liegen nicht am Grund des Meeres oder treiben tot in der rauen See. Glück im Unglück? Die Stadt Herrenberg hat sie in ihr Rettungsboot aufgenommen, gibt ihnen Obdach. Sie sollten für ihren Transport bis zum sicheren Hafen, an ruhige Gestade arbeiten. Für ihr Essen auch mal das Deck schrubben oder in der Kombüse Kartoffeln schälen. Nichts ist umsonst. Stattdessen bekommen sie Geld und können so überleben. Zu wenig zum Leben, zu viel zum Sterben. Denn sie schaffen es nicht, ihr Trauma abzuschütteln. Ihnen stand das Wasser sprichwörtlich bis zum Hals. Wie lange trieben sie in den kalten Wassern? Was hat es mit ihnen gemacht? Die Buddel voll Rum hat sie ja zuerst auch gewärmt. Doch das Rettungsboot, es schaukelt zu sehr, die bedrohlichen Wellen, die über die kleine Nußschale Mal um Mal hereinbrechen, lassen sie immer weiter zur Flasche, zum Pulver, zur Pille greifen. Es verschafft ihnen eine kleine Pause zwischen den Ängsten, der Scham, der Hoffnungslosigkeit und nimmt sie gleichzeitig darin gefangen. Und es ist schon längst zu spät. Zu spät, sich zu erheben zu spät, sich zu befreien. Fast jeder unserer Schiffbrüchigen hat diese Erfahrungen gemacht.

Kein Land in Sicht. Ist der Kapitän orientierungslos? Ist der Kompass kaputt? Überlegt er schon wie er seine menschliche Fracht loswerden kann? Nein, so ist es nicht. Lässt er sich sehen, spricht er mit den Aufgefischten? Oder delegiert er? Befehlskette. Alles klar. Dabei ist es sein Schiff. Ab und zu mal ins Unterdeck und reinschauen. Vielleicht motivieren. Das da unten ist brachliegendes Potential. Human Ressource. Vielleicht brauchen diese Schiffbrüchigen eine Ansprache? Wer, wenn nicht der Kapitän könnte besser verstehen, wie das Schiff funktioniert, wo man Menschen einsetzen kann. Der Verdacht könnte aufkommen, er wäre nur ein Kontraktor, ein Söldner, einer der vom Fachpersonal die Decks schrubben lässt, damit die Fassade schön ist.

Lisa und ich, zwei unbedarfte, ahnungslose Leichtmatrosen sind abgestellt, Essen auszugeben. Es ist eine verantwortungsvolle Tätigkeit. Wir dürfen uns den Schiffbrüchigen nähern. Sie kennen uns, wir waren selbst schiffbrüchig. Sie haben Vertrauen. Sie kennen unsere Treue. Es gab heute eine warme Mahlzeit und ein Tütchen mit Gebäck. Handmade with Love.

Wir haben eine gewisse Routine. Zuerst die, dann dort, dann links dann oben. Klingeln. Oh sie geht wieder. Der erste Kontakt. Sie sind beim Frühstück. „Frühstück“. Die Stimmung ist gut, wir werden herzlich empfangen. Wir dürfen unser Essen austeilen. Wir bekommen mit, dass es eigentlich schön sein könnte, aber die Dinge geraten manchmal leicht ausser Kontrolle. Wir brauchen keine Angst haben. Ist auch meist wieder schnell ruhig und harmonisch. Manche können aber in einem gewissen Zustand nicht aufhören, lassen sich nicht beruhigen. Dann werden die auch mal rausgeworfen. Aufstehen geht nicht gut. Laufen dann, grad so. Treppen steigen … nee, das wird nichts. Die halbe Treppe heruntergestürzt. Flasche kaputt. Blut. Schweiß. Tränen? Nö, keine Tränen. Aber Blut. Krankenwagen, Arzt? Nö kein Arzt. Aber Hilfe beim Hochlaufen. Das Blut tropft. Mein Parka ist ganz rot. Ein Lob auf die chemische Industrie. Alles abwaschbar.

Lisa ist weiter gezogen. Eine andere Situation. In diesem Teil des Hauses kein Alkohol. Alles etwas entspannter. Die Opiatfraktion ist ruhiger. Opiate sind sozialverträglicher als Alkohol. Meine unbescheidene Meinung. Der junge Mann, mit dem wir schon gebetet hatten ist da. Lisa ist schon wieder am Erzählen, von uns, wie es möglich ist, frei zu werden. Wir erzählen von Turgay, einem Gangboss, der hier in der Gegend einen gewissen Berühmtheitsgrad hat. Von seiner Verhaftung, wie er zu Jesus, zum Glauben gefunden hat. Krasse Geschichte. Sollte verfilmt werden.

Das ist keine Mission. Das ist das, was gerade ansteht. Ok, vielleicht ist es Mission. Aber nicht primäres Ziel. Wir wollen Begegnung. Wir wollen Hoffnung verbreiten. Aber keine Halleluja-People. Vielleicht doch. Wir wollen echt sein. Dieses Mal ist sein Freund mit dabei. Kurzerhand beten wir zu viert. Dass Gott in ihr Leben kommt. Dass sie befreit werden von ihrer Schuld, ihrer Scham. Dass sie frei werden. Mehr kann man nicht verlangen. Amen.

Wir klingeln an allen Türen, die auf unserer Liste stehen. Unser Essen und unsere Kekse werden dankend entgegengenommen. Dann schauen wir noch nach dem Mann, der gestürzt ist und geblutet hat. Er ist inzwischen in seinem Zimmer. Wir fragen, ob alles gut sei? Ja, alles gut. Wirklich? Ja, wirklich. Lisa trifft eine junge Frau und sie möchte nicht mehr drauf sein, trinkt keinen Alkohol mehr. Gut. Und was ist mit anderen Sachen? Ja, eigentlich auch nicht. Lisa redet mit ihr und macht ihr Mut. Dann gehen wir los. Wieder nach Hause. In die heile Welt. Wie gesagt, nichts für schwache Nerven.