Mission „Überleben“

Mission impossible? Ganz ehrlich? Ich weiß es nicht. Unsere Freunde, sie leben gefährlich. Wir bekamen einen Anruf von Freunden aus Bondorf. Wisst ihr, wo M ist? Wir machen uns Sorgen. Wir telefonieren und erkundigen uns. Keiner weiß was. Dann kommen wir, mit unseren Vespertaschen und niemand ist da. Niemand öffnet die Tür. Die Nachbarin wird gefragt, sie soll uns bitte informieren, wenn sie auftaucht. Wir telefonieren weiter herum, auch bei der Polizei. Wir warten und bangen und hoffen. Und später, endlich ein Anruf auf unseren AB. Sie liegt im Krankenhaus auf der Intensivstation. Erleichterung erst mal oder besser Gewissheit. Nicht ansprechbar. Kann viel bedeuten. Beten? Wir beten.

Unser kleines Netzwerk funktioniert. Anruf in Bondorf bei den lieben Leuten, über die wir überhaupt über M informiert wurden. Sie machten sich selbst Sorgen und die waren berechtigt. Jetzt haben wir erst mal die gleichen Informationen.

Ok, wie es jetzt dazu kam, das ist jetzt ohne Bedeutung. Für mich, für uns, vom Verein Freunde e.V. ist klar, dass jeder von unseren Freunden der nächste sein kann, der ins Krankenhaus kommt. Oder schlimmer. Egal, ob in der Notunterkunft oder in der eigenen Wohnung. Sie leben alle am Limit. Das Leben ist kein Leben im Mittelmaß, keine Mittelmäßigkeit. Wir planen unsere Urlaube schon im Jahr zuvor, wir haben so viele Sicherheiten und sind gut vorbereitet. Naja, Dinge passieren dann zwar einfach, aber das doppelte Netz ist gespannt. Der Fall ist weich und komfortabel. Und die besten unter uns haben dann noch ihren Glauben an einen persönlichen Gott. Was kann da noch schief gehen?

Unsere Freunde haben das alles nicht. In vielen Fällen ist dieses Leben in Armut ein Leben mit billigem Alkohol, mit Methadon, mit anderen Ersatzdrogen. Die Industrie und die Politik haben das bestens geregelt. Ab und zu gibt es für manche auch mal illegale Drogen. Oder man überdosiert, damit es auch mal flasht. Oder ein bisschen Frieden. Ruhe. Stille. Diesem Leben will man auch mal entfliehen. Den Kopf abschalten. Gefühle betäuben. Das hält doch keiner aus.

Was ist die Triebkraft? Was ist die Motivation? Ich glaube, es sind Erinnerungen. Irgendwann gab es für jeden (hoffentlich) eine unbeschwerte Kindheit und Momente in der Jugend, als ein Lachen noch ein Lachen war. Glück war Glück. Die Liebe der Eltern war reine Liebe. Und dann ging das verloren. Wir „Normalen“ wurden normal. Wer gelernt hat oder wer das Glück hatte, die Schmerzmenge, die Schambürde, die Schuldladung gering zu halten, konnte normal werden. Ein einfaches Leben ohne Störungen. Gut, wenn es klappt. Wenn nicht? Irgendwann ist ein Maß voll. Schmerz, Scham, Schuld können diesen Bruch auslösen. Es passiert und das Leben ist nicht mehr normal. Es ist verrückt. Man ist verrückt.

Jedes Leben ist wie so eine Prüfung. Es gibt ideale oder idealere Voraussetzungen und es gibt sie halt nicht. Und dann passieren Dinge. Es greifen Mechanismen. Man hinterfragt. Man lässt einfach laufen. Man will Schmerz vermeiden. Man wünscht sich Schmerzlinderung. Und dann sucht man auf den Plätzen und auf den Märkten und sieht die Produkte, die Schmerz vermeiden und Produkte, die versprechen Schmerz zu lindern. Man hört nicht auf Stimmen der Vernunft. Man hört keine Ermahnungen. Man ignoriert Konsequenzen.

Schmerzindustrien. Sie nennen es Showbühnen oder Karriereleitern. Versprechen in irgendeiner Weise Glück und Erfüllung, wenn man nur hart genug an sich selbst arbeitet. Und natürlich kann man sich selbst optimieren. So funktioniert unsere Welt. Viele glauben an sich selbst. Irgendwann kommt meine Belohnung. So funktioniert das. Sei artig, sei nett, dann bekommst du Liebe, Geld, soziale Anerkennung. Arbeite zielstrebig und hart. Dein Lohn erwartet dich. Sofortige Gewinnausschüttung. Oder vorausschauend? Spare in der Zeit, dann hast du in der Not. Alles richtig. Vielleicht hast du auch noch ein Herz. Vielleicht geht es in deinem Leben nicht nur um Gewinnmaximierung. Vielleicht bist du so liebenswert, dass du einen Menschen geschenkt bekommst, den du lieben darfst. Der dich zurück liebt. Vielleicht wirst du Vater, Mutter. Und du erlebst vielleicht, dass alles noch besser wird. Oder du erlebst, wie dein Kind da nicht mitspielt. Es passt nicht in diese, deine perfekte Welt? Es nimmt einen eigenen Weg. Und du musst zuschauen, wie dein Kind Fehler macht, einen falschen Weg geht. Deine Ratschläge nicht annimmt. Warnungen ausschlägt. Rennt offenen Auges in das Verderben. Und als Eltern? Haben wir nicht auch ein Recht auf unser kleines Glück? Oder sind wir verantwortlich? Verpflichtet, auch zugrunde zu gehen? Wer hilft? Die Gesellschaft soll es richten. Eltern klammern sich an jeden Strohhalm. Wir Eltern wissen ganz genau, wo unsere Schuld ist. Was hätten wir anders tun können? Andere hatten mehr Macht über unser Kind. Ohren, die nicht hören. Augen, die nicht sehen. Das ist ein Schmerz, den unser Kind nicht wahrnimmt. Unser Kind. Frucht unserer Lenden. Gottes Geschenk an uns.

Die Welt erklärt den Individualismus zur neuen, absoluten Doktrin. Zumindest hier im Westen. Die Rechte sind den Pflichten vorzuziehen. Du willst individuell sein. Tu es einfach. Ein bekannter Satanist erklärte der Welt: „Tu was du willst soll sein das ganze Gesetz.“ Und das passiert mit unseren Kindern. Allen Kindern? Nein. Bis auf ein kleines gallisches Dorf… (Spaß am Rande)

Das ist ja das große Dilemma in diesen Tagen, dass jeder ganz individuell seinen eigenen Untergang zelebriert. Wir Normalen: Stilvoll. 70 Euro Whisky. Krachen lassen. Netflixen. Fernreisen. Das individuelle Glück. Ham wir uns doch endlich auch mal verdient. Unseren verfallenden Körper durch Sport und Wellness und Bio und Öko überlisten. Mein Blick auf die westliche Lebensweise ist sicher nicht repräsentativ. Ich kritisiere und doch ist es auch Selbstkritik.

Das kleine Glück. Es gibt keine Ordnung, kein göttliches Gebot der oder dem man folgt. Es ist dieses „tue was was du willst“, höre auf niemand, außer auf deine innere Stimme. Traue niemand. Und genau das ist es, was unsere Gesellschaft prägt. Ein tiefes Mißtrauen. Zu lange waren wir alle mit dem Anhäufen von Dingen beschäftigt. Wohlstand. Keiner möchte ein Wohlstandsversager sein. Eitelkeiten. Vergleichen mit anderen. Keine Schwächen zeigen. Alles unter Kontrolle. Ich brauche niemanden. Nähe ist gefährlich. Eine gesunde Distanz wahren. Ich habe die Kontrolle. Und bei all dem vergaß ich, dass es Gott gibt.

Wenn wir jetzt mit unseren Freunden zusammen kommen, müssen wir von Gott erzählen. Von dem liebenden Vater. Das Bild vom zornigen, strengen Gott zurecht rücken. Wir sind mit unseren Freunden über Jahre immer wieder mit dieser unausweichlichen Tatsache konfrontiert. Wir wissen, dass es eine neue Ordnung gibt. Eine alte Ordnung. Gottes Plan für jeden einzelnen. Keine Schuld zu groß. In Jesus haben wir einen Lehrer, der unseren Blick auf das Herz des anderen richtet. Das Herz, aus dem das Leben entspringt. Unsere Blicke könnten genauso gut auf den schönen und reichen Menschen gerichtet sein, aber sie sind auf die Herzen unserer Freunde gerichtet. Seid nicht böse. Wenn ihr die Gesunden seid, dann braucht ihr keinen Arzt. M und die paar Dutzend anderen hier in unserem Kreis brauchen den Arzt, den besten Heiler und sie brauchen unsere Gebete. Sie brauchen Vertrauen und Tag für Tag weiter unsere Gebete. Einen kleinen Schritt müssen sie selbst tun. Den Rest können sie mit Jesus gemeinsam gehen.

Ok, ok. Bevor wieder irgendjemand denkt, diese Fundamentalisten wieder! Was ist eure Lösung? Mit Geld zusche..en? In Umerziehungslager stecken? Einfach sterben lassen? Es gibt keine Lösung, als dass jeder und jede Einzelne sich selbst rausholt. Wir können eigentlich auch nichts tun. Ich weiß genau, manche stehen kurz davor, ihr Leben ändern zu wollen und tun es dann doch nicht. Und vielleicht haben sie es schon sehr oft versucht. Sind gescheitert. Sind wieder aufgestanden. Und doch konnten sie den Schritt heraus aus der Sucht nicht schaffen.

Ich möchte, dass Jede und Jeder ein Leben in Fülle lebt. Unabhängig von materiellen Konditionen, die ich auch nicht ändern kann. Die Gesellschaft kann helfen, diese Konditionen zu verbessern. Neben Kindern und Alten sind Süchtige die schwächsten Glieder der Gesellschaft. Ich arbeite auch dafür, dass Sucht und damit verbundene Armut in unserem Kreis wahrgenommen wird. Ich verstehe meine Arbeit nicht als Sterbebegleitung. Und doch ist es eine Art After-Life-Design. Nach dem Sterben möchte ich unsere Freunde in der Ewigkeit wiedersehen. Wo kein Schmerz und keine Tränen sein werden. Meine Arbeit ist ein Kampf gegen den Feind, der raubt und mordet. Sucht ist eine seiner Waffen. Sucht zerstört nicht nur Familien. Aber das ist ein anderes Thema.