Männerwirtschaft

Samstag besuchten Lisa und ich wieder unsere Freunde in der Schießmauer. Wir brachten Putenschnitzel mit Reis und Gemüse. Dazu noch Brötchen und Pudding. Wir kamen kurz nach zwölf Uhr und unser erster Blick galt Dietmar, der heute aber nicht, wie üblich schon wartete, sondern unterwegs war.

Dafür trafen wir unsere anderen Bewohner an und kamen gleich ins Gespräch. Ich freue mich echt, wenn ich Armin sehe und Rene, aber auch Michael oder Olaf oder unsere russischen Freunde.

Unser Essen ist für einen der Bewohner enorm wichtig, ich glaube er kocht schon ewig nicht mehr und die Samstagsmahlzeit ist das erste richtige Essen in der Woche. Vielleicht das Einzige. Wenn Essen übrig sind, gebe ich ihm noch eins, denn ich sehe seine Augen leuchten beim Anblick des Essens.

Meiner Meinung nach gehört er nicht hierher, sondern er braucht Betreuung. Leider befürchte ich, kann er sich dafür nicht begeistern. Ob es die Alkoholsucht ist, oder die Vorstellung sein Leben könne er nicht mehr selbst bestimmen, die ihn davon abhält, etwas zu ändern oder beides, weiß ich nicht. Die andere Frage wäre darauffolgend, ob er überhaupt weiß, dass er sein Leben nicht selbst kontrolliert. Die Abhängigkeit wird als Freiheit interpretiert. Das Recht auf Verwahrlosung. Ich verstehe das und ich versuche, die Würde in solch einem Leben zu sehen.

Ein anderer Bewohner kommt zur Tür, bedankt sich für sein Essen, mal mehr oder weniger bekleidet, aber das ist nicht so wichtig. Sein Leben hier in der Schießmauer ist darauf eingestellt, dass sich nichts ändern wird. Seine Würde besteht darin, in dieser unwürdigen Umgebung seine Würde zu behalten. Ich kann das voll verstehen, obwohl ich darin auch eine Passivität erkenne, die mir total fremd ist, denn ich will gestalten, ich will bestimmen. Vielleicht bin ich der Kontrollfreak und er ist ganz entspannt im Hier und Jetzt.

Ein anderer leidet sehr unter der Situation, unter den Umständen. Er sucht immer wieder das Gespräch mit uns. Er hadert mit allem und besonders mit seinem Leben.

Natürlich nicht sein Leben, sondern das Leben, die Umstände, gesellschaftlich, politisch. Ich schätze in einem therapeutischen Rahmen wäre es ihm möglich Selbstreflektion zu lernen. Die Schuld haben aber immer die anderen.

Wir sprechen mit ihm, ich kann viele seiner Thesen nachvollziehen und sogar manchem zustimmen. Allerdings ziehe ich andere Konsequenzen. Und am wichtigsten ist mir, dass Jesus letztendlich rettet. Das sagen wir ihm, denn wir spüren seine Anspannung, seine „Explosivität“, und versuchen ihm einen Weg zu Jesus zu zeigen. Und das, obwohl das Leben nicht toll sein muss und ist. Er braucht unser Gebet.

Manche Situation ist einfach nur aus Dummheit entstanden, oder durch falsche Entscheidungen oder dem Mangel an Entscheidung. Und jetzt ist es wie es ist. Ist wirklich jeder seines Glückes Schmied?

Die Russian Connection, wie ich es gerne bezeichne, ohne respektlos zu klingen, eher vertraut, öffnet heute die Tür, ohne dass wir hinter das Haus und ans Fenster klopfen müssen. Sie nehmen das Essen immer gerne entgegen. Ich wollte gerne ein paar Worte mehr wechseln, aber mein russisch ist nicht gut genug.

Ich möchte unsere Freundschaften gerne noch positiver darstellen, aber es geht nur bedingt. Ich sehe Menschen, die in ihrer Situation Monat für Monat einer Überlebens-Strategie folgen, die wir Aussenstehende nicht gleich verstehen. Wir könnten sehr viel kritisieren, glaube ich. Aber wir verstehen es nicht.

Sehr positiv ist immer die herzliche Begrüßung. Wir kommen nicht hierher als Aussenstehende, als Fremde, sondern wir werden als Freunde wahrgenommen. Und das, obwohl sich unsere Leben vollkommen unterscheiden.

Wir verstehen ihre Sucht und ihre Not. Wir sind ihre Stimme, wir helfen gerne. Nebenbei löse ich Handyprobleme, manchmal dürfen wir für sie beten. Und auch wenn sie schon seit Jahren unter diesen Umständen leben und leiden, möchten wir weiter Hoffnung bringen und die gute Botschaft. Wir glauben, dass Randgruppen, wie Wohnungslosen oder Suchtkranken in unserer Gesellschaft nicht nur mehr Aufmerksamkeit, sondern vor allem auch mehr Hilfe gegeben werden muss.

Im Verein suchen wir deshalb auch nach Lösungen, um die Situation dieser Bewohner zu verbessern und sie zurück in die Gesellschaft zu holen. Dafür suchen wir in Herrenberg Gebäude, wo wir einen „Friendspoint“, eine Begegnungsstätte und auch Wohnprojekte realisieren wollen. Mal sehen, wie sich das entwickelt.

Ich könnte mir vorstellen, dass sich mittelfristig etwas entwickelt. Ich möchte, das die Bewohner der Schießmauer wieder am Leben teilhaben können und ich träume von Heilung. Mir geht es nicht schnell genug. Ich sehe, dass manche Bewohner am Limit leben, aus welchen individuellen Gründen auch immer.

Dann verabschieden wir unsere Freunde.