Intensiver

Ja, es wird intensiver. Ist heute (Samstag) der Tag, an dem wir letztmalig normal Essen verteilen und Gespräche und Seelsorge mit unseren Freunden haben können? Die neuesten Corona-Hiobsbotschaften habe ich nur vom Hörensagen mitbekommen. Nichts genaues. Ich verdreh innerlich meine Augen. Ich will eigentlich gar nichts mitbekommen. Ich möchte unsere Samstags-MAHL-Zeit einfach nur zu Menschen bringen und ihnen etwas Aufmerksamkeit schenken. Einfach zuhören. Und das soll nach dem neuesten Update nicht mehr möglich sein?

Egal, heute gab es leckeren Rindfleisch-Eintopf. Anna, von der Metzgerei Gerullis schafft es, Woche für Woche Mahlzeiten zu zaubern, die gerne angenommen werden und auch schmecken. Natürlich sind die Geschmäcker verschieden. Der eine mag dies, der andere das lieber. Ganz normal.

Heute war seltsam. Ich wurde schon erwartet. Dietmar, der unsere Essen sehr schätzt, kam genau zur rechten Zeit. Dietmar ist ein Unikum. Er ist gut organisiert, und wie ich es mitbekomme, einer der aktivsten. Viel an der frischen Luft. Er macht sein Ding. So gut es geht. Er geht Streitigkeiten aus dem Weg. Eigentlich ist er immer freundlich. Immer gepflegt. Wir haben uns kurz über die anstehenden Änderungen des Infektionsschutzgesetzes unterhalten. Er sagte, es ist alles irre. Zum Glück ist er nicht depressiv. Traurig, ja ich finde, er wirkt traurig. Lebensfreude sieht anders aus. Er bewohnt mit einem anderen Mann ein „Apartment“ in der Schießmauer. Nach meinem Eindruck, sind beide sehr sauber, auf Ordnung bedacht. Auch Drogen oder Alkohol spielen keine Rolle. Nichtsdestoweniger müssen sie, wie jeder hier, die Situation mit ihren Mitbewohnern aushalten. Es gibt öfter Streit. Mal mehr, mal weniger. Das bleibt nicht aus. Auf so engem Raum sollte man nur mit den Leuten zusammen wohnen, mit denen man kann. Und auch da kracht es manchmal. Meine Lisa kennt das. Doch Dietmar oder die anderen Männer haben eigentlich keinen eigenen Raum. Keine Möglichkeit, die Tür zu zuschliessen und Ruhe und Frieden zu haben. Immer jemand Fremdes im Haus.

Im 2-stöckigen Gebäude sind, glaube ich 8 oder 9 Wohneinheiten mit jeweils 2 oder 3 Räumen. Wenn die Kapazität voll ausgelastet ist, könnten theoretisch bis zu 20 Menschen dort wohnen können. Theoretisch. Das Ensemble, das gesamte Ambiente hat den Charme einer Vollzugsanstalt, was ja in Coronazeiten und Endlos-Lockdown noch mehr stimmt, denn für die Insassen gilt, wie für jeden anderen Inhaftierten: Einschluss um 21 Uhr.

Ich übergebe vor den einzelnen Wohneinheiten die Mahlzeiten. Hier erfahre ich, wie es gerade geht. Wo der Schuh drückt. Beziehung ist alles.
Unten sind drei Einheiten belegt. Zu Rene und Armin, komme ich gerne, denn hier ist es in der Regel harmonisch. Die 3-Zimmer „Apartments“ haben einen ca 20qm großen Vorraum, eher weniger, in dem gekocht werden kann. Hier steht auch ein Tisch, damit man das Essen nicht in der Zelle (oder Zimmer) essen muss. Ich schätze, diese Zimmer sind 9 qm groß. Zelle passt ganz gut. Ein Bett, ein Schrank, ein Fernseher und ein Kühlschrank. Voll gestellt. Wie gesagt, ich mag die beiden Männer, es ist sehr harmonisch. Meistens. Wenn Unruhe herein kommt, dann meist von außen. Aber natürlich gibt es auch interne Faktoren. Sie haben alle das gleiche Bedürfnis, nämlich ihren eigenen Space zu haben. Wo nicht irgendein Fremder das Bad oder die Toilette oder die Küche benutzt. Die Vollzug-Analogie passt schon irgendwie.

Hab ich schon erwähnt, dass ich beide sehr mag? Ich kenne sie schon ein paar Jahre. Armin war letztes Jahr in der Lungenklinik. Ich habe ihn dort besucht. Ach ja, und bin dort aus Versehen durch die leere Corona-Station gelaufen. Zwei mal. So geht Pandemie. Alles Normal. Beide haben einen guten Charakter, es sind ehrliche Menschen. Beide müssen da raus und beide brauchen ein Neues Leben. Beide wollen unabhängig voneinander ihre eigenen vier Wände. Kann sich keiner vorstellen, wie sehr. Und wenn sie gemeinsam wohnen wollten, als WG, dann, weil sie es wollen.

Rene nahm mir meine Essen ab. Heute ergab sich keine Gelegenheit, mehr Worte zu wechseln. Einander zunicken. Irgendwas murmeln. Keine Umarmung oder andere freundschaftliche Gesten. Das ist von der Tagesform abhängig, oder einfach kein Bedürfnis. Etwas später rief ich Rene an. Es sei alles Ok.

Olaf, nun er wohnt nebenan. Er muss auch mit einem Mann zusammen leben. Und auch er freute sich über das Essen. Möchten er oder sein Mitbewohner gerne diesen Ort verlassen? Ich frage ihn das nächste Mal.

Frieders Apartment steht immer noch leer. Ich weiß nicht, ob es immer noch verbrannt riecht. Der arme Frieder. Manche Menschen vergisst man nicht einfach.

Dmitri wohnt in einem 3-Zimmer Apartment. Zwei Zimmer davon sind verschlossen. Müssen sie grundgereinigt werden? Desinfiziert? Jedenfalls konnten die beiden anderen Bewohner ausziehen. Manche schaffen es, lebend raus zu kommen.

Dmitri freute sich über das warme Essen. Ab und zu ist sein Freund Alex zu Besuch, weiß ich. Sein Freund hat nicht einmal ein eigenes Zuhause. Er würde sich erst mal über ein eigenes Zimmer freuen, aber wenn man gar nichts hat, stellt man keine Ansprüche. Wenn Alex da ist, verteile ich auch manchmal zwei warme Essen. Sehr bedürftig. Wir beteten schon öfter für beide, für ihre Kinder, für Heilung.

Oben wohnt ein weiterer Alex zusammen mit zwei weiteren sehr bedürftigen Männern. Und das ist problematisch. In jeder Hinsicht. Alex ist ein freundlicher junger Mann. OK, bestimmt hat er seine Geschichte. Vielleicht ist sein Lachen, sein Lächeln Strategie. Um in dieser Situation die eigentlich erbärmlich ist, nach außen stark zu wirken? Und das Lächeln, das freundliche Wesen überdeckt das Ganze.

Seine beiden anderen in seiner Wohneinheit haben andere Strategien. Die gesamte Situation ist mehr als problematisch, explosiv passt auch. Muss man einfach gesehen haben…. Wie kann man so etwas aushalten?

Mein nächster Boxenstop war beim Schießtäle. Adalbert wartet schon an der Bushaltestelle. Sein Gesicht lädiert. Er sei gefallen. Sagt er. Ich weiß nicht, wo er wohnt. Er freut sich über ein warmes Essen.

Dann rufe ich bei Harald an, weil die Klingel nicht funktioniert. Ich frage, ob er heraus kommt: „Nee, komm kurz rein. Muss mit dir reden. Will dir was zeigen.“ Ich bring das Essen, er öffnet die Tür und führt mich in das Zimmer, das er sich mit einem anderen Mann teilen muss. Mehrfachbelegung. Im Hotel würde man überbucht sagen. Für die Stadt Herrenberg ist es ok. Dann erzählt er mir, was gestern passiert ist. Zeigt mir, den Ort der Unordnung, etwas, das so nicht passieren darf: Er hatte Besuch und sein Mitbewohner kam später am Abend und verlangte, dass sein Besuch gehen solle. Eine Streitsituation, wie schon so oft, entstand. Es kam zu Gerangel. Kurzum, die Situation eskalierte. Dann kam sogar die Polizei.

Ich nahm mir Zeit. Ich saß da, hörte mir an, wie er klagte, und wie untragbar die gesamte Situation ist. Zumal er seine Situation schon bei der Stadt und beim Jobcenter vorgebracht hat. Ich hatte vollstes Verständnis und war davon betroffen, was er mir erzählte. Seine Stimme klang verzweifelt. Vielleicht kämpfte er mit den Tränen. Ich versprach, am Montag bei der Stadt anzurufen und zu bitten, diese unmögliche und unwürdige Situation zu beenden und auch ihm ein eigenes Zimmer anzubieten.

Und bitte nicht die Schießmauer. Es wäre eher ein sozialer Abstieg. Sofern es überhaupt noch tiefer geht.

Eine Anmerkung möchte ich anbringen. Das Stadtbild der Stadt Herrenberg verändert sich dramatisch. Die Hauptstraßen der Stadt wurden herausgeputzt: Stuttgarter, Horber, Hindenburg, Hildrizhausener und Tübinger Straße. Geld aus vielen Töpfen wurde in unzählige Ampeln, beleuchtete Geschwindigkeitsschilder und höchst gefährliche Fahrradwege investiert. Wie viel Geld hat die Stadt Herrenberg für diese Menschen übrig? Gab es kein Budget für Schöner Wohnen? Wurde irgendein Euro in 2021 oder 2022 eingeplant? Können neben lustigen Ampeln vielleicht auch mal lustige Häuser gebaut werden? Gibt es da keine Fördergelder aus Land, Bund, EU, die man anzapfen kann um diese unwürdigen Zustände zu beenden? Das schöne Herrenberg sollte versuchen, die Situation dieser Menschen ernsthaft zu verbessern. So, das musste mal raus.

Alles in allem war heute fast ein normaler Tag. Wenn nicht diese Hoffnungslosigkeit spürbar wäre.

Dazu kommt noch diese bleierne Atmosphäre, die Corona über das Land legt.

Hier sind Menschen, die in dieser speziellen Zeit noch hilfloser sind, als wir. Die Kollateralschäden dieser komischen Pandemie treten bei ihnen noch offensichtlicher zu Tage. Die neuen Maßnahmen. Nimmt die Kanzlerin vielleicht doch wieder etwas zurück? Wie letztes Mal. Hat sich doch schon mal geirrt. Nur um jetzt noch einen drauf zu setzen? Werden wir alle verarscht, fragen manche? Die Bewohner der Notunterkünfte noch mehr, als wir? Gerade diese Menschen müssen nach dem langen Winter wieder ans Licht. In die Sonne. Auf die Boulevards. Ins Leben. Sie verstehen es nicht, dass man sie einsperrt. Wir können uns, wenn wir wollen, richtig informieren. Selbst entscheiden, ob die oder die Maßnahme intelligent ist, oder doch nicht. Aber diese Menschen sind allem ohne Informationen ausgesetzt: kein Internet, kein Fernsehen, keine Zeitung. Obwohl, vielleicht ist das gar nicht so verkehrt. Wer weiß?

Sie leben nicht mit ihren Familien. Es sind Notgemeinschaften. Nicht wirklich Solidargemeinschaften. Es ist ein kleiner Kosmos. Man hilft sich schon gegenseitig. Vertrauen muss man sich verdienen. Das Misstrauen ist oft berechtigt, aber wer sich das Vertrauen verdient hat, ist angenommen. Jeder weiß Bescheid. So entstehen Freundschaften. Durch Alkohol und Drogen werden diese allerdings auch wieder auf die Probe gestellt. Und dennoch bleibt die Wahrheit: Diese Menschen sind allein. Keiner, der in einer funktionalen oder auch disfunktionalen Familie lebt. Keine Kinder, die ihre Leitung und Hilfe einfordern. Und umgekehrt: niemand, für die sie Sorge und Verantwortung übernehmen dürfen. Wir, die Gesunden, die Reichen und Erfolgreichen und Schönen. (Ironie?) Wir haben das. Oder wir leben gerne allein. Oder beten für einen Partner. Sie? Ohne Hoffnung? Haben sie das verdient? Selbst schuld?

Bis zur Verschönerung der Lebensumstände unserer Ärmsten und Hilfsbedürftigsten ist unsere samstägliche Mahlzeit eine notwendige Hilfe. Sie bringt Menschen dazu, nicht an ihrer Situation zu verzweifeln. Hoffnung wäre schön. Aber dazu braucht es mehr, als Menschen geben können.