Intensive Fürsorge

Ich hab mich mit E. aus BB verabredet, damit wir endlich seine SIM Karte aktivieren. Mangels öffentlicher Orte hat er sich mit A. und ich mich mit R. in der Schießmauer getroffen. Für R. wollte ich auch den Fernsehanschluß richten, damit er sich in seinem Zimmer aufhalten kann, damit er sich auch ohne Diskussionen oder Rechtfertigungen in sein Zimmer zurückziehen kann, oder damit er sich einfach vom Fernsehprogramm berieseln lassen kann, auch wenn mal wieder ungebetene Gäste oder andere im Haus sind. Vielleicht. Oder er stillt sein Informationsbedürfnis. Jedenfalls besorgte ich eine Antennenbuchse und Kabel. Hämmerle hats, aber ich hab zuerst die falschen Kabel und die falsche Dose gekauft. Also noch mal hin. Sie haben ja eine Satellitenanlage!

Auf den zweiten Anlauf klappte es und der Einbau funktionierte auf Anhieb und der Sendersuchlauf raste durch und fand immer mehr Sender. Ich freute mich darüber und erhielt Dank dafür. In der Zwischenzeit bot er mir einen Kaffee an. Dafür bedankte ich mich.

In der anderen Zwischenzeit brachte ich per Hotspot E’s Handy ins Netz  registrierte seine SIM Karte. Die Authentifizierung bei Aldi gestaltete sich unterdessen schwieriger als erwartet, denn es pochte am Fenster und jemand wollte eingelassen werden, was aber nicht möglich war, weil wir die Pandemieregeln nicht verletzen wollten. Einerseits. Andererseits waren die Personen aktuell nicht gerade freundlich und forderten den Einlass mit verschiedenen taktischen Manövern, von Appellen an die Freundschaft, über vergangene schöne Zeiten, bis hin zu Drohungen und Beleidigungen. Da ist bestimmt Alkohol im Spiel, dachte ich mir.

A. und R. wollten aufgrund ihrer Erfahrung auch ganz sicher nicht öffnen. Sie wollten kein Gespräch. Das kam draußen aber nicht an oder wurde ignoriert. Die aufdringliche Art, das Geschrei, das Klopfen ans Fenster machten indes eine erfolgreiche Authentifizierung unmöglich. Die ganze Situation war surreal, unecht und doch beunruhigend. Ich wollte am Liebsten raus gehen und fragen, ob es noch geht, wurde aber weder gebeten noch ermutigt.

Vier Männer innen, zwei Menschen, davon einer weiblich, irgendwie, außen. Man wolle sich auf keinen Fall in körperliche Auseinandersetzungen einlassen, die, so schien es, im Rahmen des Möglichen waren. Dies konnte ich nachvollziehen.

Das Geklopfe, das Geschrei, ließen langsam nach. Stattdessen kam aus einer Bluetooth Box „Everybody wants to rule the world“ von Tears for Fears, Tränen für Ängste. Irgendwie ein bescheuerter Name für eine Musikgruppe. Nicht nur das, wir wurden genötigt uns weitere musik-ähnliche Klänge anzuhören. Teil einer Taktik? Die verhinderten „Gäste“ belagerten den Außenbereich. Irgendwann schlossen wir das Fenster, um nicht mehr gestört zu werden. So konnten wir uns auch unterhalten. Dann hörte auch die Musik auf und wir konnten die Aldi Authentifizierung endlich durchführen und abschließen.

Zwei Männer glücklich. Nein, soweit würde ich nicht gehen. Ich hab meine Zusage beiden gegenüber eingehalten. Ein Mann, ein Wort.

Doch A. war irgendwie not amused. Es war so, dass er tagszuvor eine Auseinandersetzung hatte und nun erneut durch die Leute vor der Tür unter Druck gesetzt wurde. Ich würde mich so fühlen. Keine gute Situation, Gewalt angedroht zu bekommen, nachdem man Gewalt erfahren hatte. Eigentlich geht das gar nicht. Aber eine Anzeige erstatten? Irgendwie auch nicht gut. Schließlich sieht man die Personen fast tagtäglich. Ich weiß nicht, wie ich oder wie ihr euch verhalten würdet.

Das Heim, auch wenn es nur eine Notunterkunft ist, sollte ein sicheres Zuhause sein. Türen sind dafür da, die eigenen Grenzen zu schützen, wenn es Menschen gibt, die diese Grenzen überschreiten. R.  entschuldigte sich dafür, dass ich so etwas erleben musste. Ich sagte ihm, dass dies unnötig sei.

Ich weiß, wie man sich als Gast zu verhalten hat. Andere, offenbar nicht. Alkohol macht es auch nicht einfacher.

Wir kamen auf meinen Sohn Karl zu sprechen und ich erzählte, dass er seit Corona schon mehrere Computer Kurse gemacht hat und aktuell den LPIC1, glaube ich, zum Linux Administrator. A. zählte mir die Kurse auf, die er schon alle gemacht hat, bevor, nun ja, bevor er in die Sucht abgerutscht ist. Ich musste selbst anerkennend sagen, dass die alle auch heute noch eine solide Basis wären, für eine berufliche Perspektive. Cisco, Oracle, Citrix, um nur ein paar zu nennen. Wie könnte man dieses Wissen reaktivieren? Wie könnte man dieses Selbstwertgefühl aufbauen? Nein, lieber Freund, es ist nicht OK. Auch wenn du immer wieder sagst, es wäre so. Hier vertraue ich auf mein Bauchgefühl. OK fühlt sich anders an.
Zurück zu unserem Männergespräch. Ich musste es ansprechen, dass jeder einzelne von ihnen noch mehr Hilfe benötigt, als wir geben können. Professionelle Hilfe. Aber ich sagte, auf dem Weg dorthin will ich begleiten und unterstützen. Allerdings muss sich bei ihnen allen eine Entscheidung durchringen: Situation erkennen, Hilfe annehmen, entgiften, eine Therapie machen, auch eine Nachsorge. Ein Neueinstieg. Dafür braucht es zuerst einen Ausstieg. Das würde auch noch mit 50 möglich sein. Ich zeigte meine Vision auf, wie ich denke, ein Weg aus diesem Elend zu schaffen sei.

Der Glaube an sich selbst,  eine Vision von sich selbst, das eigene Haus in Ordnung bringen. Ich sagte ihnen, wenn sie daran glauben können, und Schritte tun, wie das Haus vor solchen Menschen zu schützen, die Party zu beenden, die Bude auf Vordermann bringen, damit die Leute vom Amt sehen können, diese Leute sind vermittelbar, sie sind wieder auf dem Weg in die Spur, wenn Hilfen kommen, weil sie sich nicht länger gehen lassen, und das Leben um ein Vielfaches besser wird, statt auf ewig in Abhängigkeit zu stagnieren, dahin zu vegetieren.

Ein Wort zum Ort: Hier in der Schießmauer ist eine magnetische Kraft, stark genug, um Menschen zurückzuhalten, nicht auszubrechen und andererseits stark genug um Menschen hierher zu locken:

Hotel California

Diese Männer brauchen Hilfen. Ich sagte, es gibt Hilfen, man will ja helfen, in Herrenberg, im Kreis, ihr seid ja nicht allein, aber jede Investition muss auch gerechtfertigt sein. Man investiert kein Geld in ausweglose, zum Scheitern verurteilte Dinge oder in Menschen.

Das ist die Realität. Ich würde auch in meinen Sohn kein Geld investieren in so einer Situation.

Der Glaube an sich selbst ist ein Ding. Woher soll der kommen? Der Glaube an andere Menschen, die kommen, einem zu helfen ist auch sehr vage. Oft, oder fast immer ist da ein Eigeninteresse. Stimmt das?

Bei mir kann ich kein Eigeninteresse sehen. Ich bereichere mich nicht. Ich investiere Zeit in meine Aufgabe, Menschen aus der Sklaverei zu befreien. Ich bin nicht sehr erfolgreich dabei. Die Sklaverei der Sucht ist äußerst heimtückisch, bedeutet doch die Aufgabe des Suchtmittels die Aufgabe der Sicherheit, der Erlösung. Gleichzeitig ist das Suchtmittel der Grund für das Verbleiben in der Sklaverei.

Ich mag das englische Wort „relief„, das einem Seufzen der Erleichterung, dem Hingeben, dem Eintauchen in ein warmes Bad ähnlich ist. Das ist es, was einem die Droge verspricht. Und nicht hält. Es ist eine Lüge. Es ist die Lüge.

Grade eben rief ich noch mal an, um zu fragen, ob alles sicher ist oder ok: Zum Glück ja. Therapie? Ja, vorstellbar. Aber es fehlt noch ein Fünkchen. Gelobt sei die Krise. Wenn die Krise die Möglichkeit der Veränderung liefert, dann her damit. Wenn nur die Erhöhung des Leidensdruck Veränderung ermöglicht, dann muss das gelobt werden. Oder es kommt der Heilige Geist und bewirkt ein Aufwachen. Ein Ausbrechen.

Ach ja, ich hätte beten sollen. Ich hab es nicht getan. Ich bete für sie. Aber vielleicht mit ihnen beten? Ich nehm es mir vor für nächstes Mal. Ich liebe ja Anglizismen, wisst ihr vielleicht. Das heute war intensive care, intensive Fürsorge.