Hotel California

Auch diesen Samstag gab es wieder Gelegenheit, unsere schönen Vespertaschen zu verteilen, bzw. zu erhalten. Lisa und ich besuchten wie immer die Schießmauer. Es war irgendwie unwirklich und wie fast jedesmal bestimmt keine gewöhnliche Situation. Wie wissen nie, was uns erwartet. Jedoch scheint es so, also wären wir eine willkommene Abwechslung in dem zumeist tristen Alltag für die Bewohner der Schießmauer, denn kurz nach unserer Ankunft kamen sie nach und nach aus ihren wohnungsähnlichen Unterkünften. Ok, Lisa rief laut vor dem Haus „Hallo, es gibt Essen“. Lisa halt….

Vielleicht sind wir auch inzwischen wie eine Konstante in ihrem Leben. Corona hätte zumindest in dieser Hinsicht etwas Positives bewirkt. Mehr oder weniger. Oder je nach Betrachtungsweise. Zwar leben die Bewohner immer noch, was auch während dieser Pandemie nicht selbstverständlich ist, und immer noch unter diesen erbärmlichen Umständen, aber weil wir Woche für Woche treu samstags kommen, bzw. sie einmal pro Monat zum Brunchgottesdienst einladen, ist doch eine erfreuliche Vertrautheit entstanden und gewachsen. Dass sie auch ohne unsere Besuche und Fürsorge überleben würden, steht ausser Frage. Dafür ist das noch vorhandene Sozialsystem ausreichend. Ob das Bürgergeld Verbesserung bringen wird? Und doch bilde ich mir ein, dass unsere Besuche wertvoll sind.

Die erste Woche nach Geld. Bei einigen unserer Freunde ist es schon weg. Ganz sicher. So wie es jeden Monat läuft. Wir kennen das. Mit süchtigen Kindern kennt man das. Doch nicht alle sind so in der Sucht gefangen. Bei manchen wird das Geld noch ein paar Tage länger reichen. Zum Glück gibt es gerade (noch) keine Bußgelder wegen Verstössen gegen irgendwelche Kontaktbeschränkungen, wie es Anfang des Jahres war. Vielleicht schaffen es manche deshalb, länger durchzuhalten. Wieder andere sind sich ihrer Situation bewusst, sie haben nicht einmal ein Suchtproblem. Sie geraten auch nicht in Konflikte. Ihr Problem ist einfach dieser Ort, der sie gefangenhält. Unfähig, zu entkommen.

But you can never leave…

Nichts Neues also? Ich möchte auch nicht immer etwas Spektakuläres berichten müssen. Das hier ist ja auch keine Freakshow. Es geht hier um Männer, die Hilfe benötigen (auch mehr oder weniger), es geht um Begegnungen mit Menschen, die uns auch schon vor der Seuche am Herzen lagen.

Erfahrungshorizonte. Ich weiß, wie schwer es manchen Menschen fällt, sich diesen Menschen zu nähern. Es ist halt eine Randgruppe. So wie andere Menschen vielleicht ein Problem hätten, sich einem Flüchtlingslager zu nähern oder eine Kinderkrebsstation zu besuchen.

Dies im Fernsehen anzuschauen ist sicherer, keine Frage. Das Fernsehen zeigt aber selten Menschen, die diesen Dienst tun, ob auf einer Intensivstation oder in einem Hospiz, oder in den Slums von Kalkutta oder Sao Paulo oder hier mit dem Dienst, den wir, von Freunde e.V. oder von der Süddeutschen bei unseren Freunden leisten. Das Fernsehen lebt von Effekten. Das Fernsehen ist unecht. Das Fernsehen könnte nie diese Gefühle mit Menschen auf der einen oder anderen Seite transportieren. Kein Rackelbum.

Ganz sicher gibt es Unterschiede in der Intensität der Begegnungen: das Elend, die Not kann manchmal sehr direkt sein. Ein Einsatz von Sanitätern bei einem Selbstmordattentat auf einem Marktplatz in Kabul oder in irgendwo in Tel Aviv hat eine andere Qualität, als zum Beispiel unser Besuchsdienst, ab und zu mal Fußnägel schneiden, oder das Zimmer eines unserer Freunde zu reinigen.

Wie dem auch sei, das eine oder das andere: Man macht es nicht kalt und routiniert. Man benötigt ein Herz. Egal, was diese Menschen in ihrem Dienst am Menschen tun, ob sie eine Kelle voll Suppe ausgeben, ob sie einen wundgelegenen Komapatienten wenden, ob sie das Bett eines Verstorbenen abziehen, ob sie einem Volltrunkenen auf die Beine helfen, ob sie Senioren die Suppe helfen, auszulöffeln und so vieles mehr: man muss etwas überwinden. Man muss sich überwinden. Und weil sie etwas überwunden haben, etwas, was wir uns eigentlich nicht trauen, weil es ekelig, unappetitlich, gefährlich, abstossend, stinkend oder sonst etwas ist, das in diese Reihe passt, sind diese Menschen etwas Besonderes. Wenn sie es nicht tun, tut es keiner. Wenn es keiner tun würde, wäre die Welt eine andere.

Die Menschen, egal ob sie ihre Arbeit, ihren Dienst ehrenamtlich tun, oder ob sie dafür bezahlt werden, sind für die Mehrheitsgesellschaft meist unsichtbar, sie stehen im Hintergrund. Sie werden auch keine Sozial- oder Gesundheitsminister. Selbstdarstellung liegt ihnen nicht. Sie wissen, sie können scheitern. Sie wissen, wir alle können scheitern. Das Ding im Rampenlicht machen immer andere, und natürlich wissen sie alles besser.

Für manche Menschen sind unsere „Engel“ einfach nur Dienstleister oder abwertender auch Dienstboten, Lakaien, Chaiwallas, als ob wir inzwischen ein Kastensystem etabliert hätten. Sie meiden den Kontakt sowohl zu den Hilfsbedürftigen, als auch zu denen, die sich die Hände schmutzig machen, die Unreinen. Es gibt keine Gleichheit. Da wird auch eine Ampel nichts daran ändern.

Welchen Stellenwert diese Menschen in unserer Gesellschaft haben, sehen wir tagtäglich. Pflegekräfte und andere Berufe im Gesundheitsbereich werden mit Mindestlöhnem abgespeist. Das System am Menschen ist vollkommen kommerzialisiert. Es geht nur um Gewinnoptimierung. Jede Minute im Pflegedienst wird als Dienstleistung berechnet. Pflegekräfte werden selten mehr direkt eingestellt, denn das würde die Kalkulation der Einrichtung belasten. Outgesourced. Kostenfaktoren.

Welchen Nutzen sie für die Gesellschaft, ja sogar für die Menschheit haben und haben könnten, wird in keiner Statistik und keiner Bilanz aufgelistet. In einer idealen Welt, würden sie nicht nach Minuten oder Stunden bezahlt, sondern nach dem Wert den sie für die Gesellschaft erbringen und für die Zunahme von Menschlichkeit.

Oh je, ich schweife wieder einmal ab. Wir hatten Begegnung und Gespräche, ein Lächeln, ein wissendes Augenzwinkern, eine Ermutigung. Lisa lud zu unserem Gottesdienst ein, bei dem ich wieder im Musikteam mitspielte. Tatsächlich kam jemand aus der Schießmauer, Lisa setzte sich zu ihm und so konnte er mich in meiner ganzen Unperfektion sehen, aber dennoch getragen von meinen anderen Mitspielern, die mehr drauf haben als ich. Ich mochte die Liedauswahl. Und was in der Probe so einfach ging, war live mit einigen Aussetzern begleitet. Aber das war zweitrangig. Es war Lobpreis. Es war Anbetung für mich. Das Ergebnis war wichtig. Die Botschaft war wichtig.

Gewinnt eure Seelen durch euer standhaftes Ausharren

Unsere Vespertaschen, auch dieses Mal gut gefüllt und mit Liebe gepackt und von uns überbracht, bringen Menschen näher.