Gnade

Ich aber bin elend, und mir ist wehe. So schreibt der Psalmist. Aber es ist auch in unserer Zeit nicht fehl am Platz, denn Samstag war eine echte Herausforderung. Das volle Programm.

Als Lisa und ich ankamen, standen ein Sanitätswagen und ein Polizeiwagen vor der Unterkunft. Wir sahen die Männer, die gerade aus dem Haus kamen und zurück zu ihren Fahrzeugen liefen. Lisa ging auf sie zu und stellte sich sofort vor: Hallo, wir sind von Freunde e.V. und kennen die Bewohner hier und liefern das Essen aus. Es war uns relativ klar, warum sie hier waren.

Wir mussten gar keinen Namen erfragen oder um welchen unserer Bewohner es sich handelte. Und so sahen wir in die hilflosen Gesichter der Beamten und auch der Sanitäter, die sichtlich mitgenommen wirkten, denn wir alle – auch sie – waren nicht zum ersten Mal mit dieser Situation konfrontiert. Selbstverständlich waren diese Beamten professionell, doch ich glaube, es zehrt trotz allem auch an ihren Nerven. Wie kann man diesem Bewohner helfen? Welche Haltung sollte man einnehmen?

Ehrlich gesagt, weiß ich es nicht, aber es ist eine Situation in der Schießmauer, die auch jeden der übrigen Bewohner belastet. Ich aber bin elend und mir ist wehe. Um so einen schönen, schaurig-schönen Satz zu sagen, muss man in der Lage sein, seine Situation zu reflektieren. Doch dieser Punkt ist längst überschritten. Der Point of no return zurück in diese Gesellschaft scheint schon seit ewigen Monaten und Jahren vergangen zu sein.

Ich frage mich, ob nicht auch das eigene Ich, das eigene Bewusstsein schon unerreichbar geworden ist.

Wir alle kennen Krisen. Eigene Krisen oder Krisen von anderen. Die eigenen Kinder, der eigene Partner. Oder wir sehen hilflose Menschen in der Fussgängerzone. Das Fernsehen und Netflix sind voll davon.

In der Bibel gibt es Krisen. Hiob zum Beispiel, dem alles genommen wurde. David, der sich vor Saul verstecken musste und um Leib und leben fürchtete. Oder Krisen, wie sie die Opfer der Christenverfolgung in Rom oder neuzeitlich die Opfer des IS erleben mussten, von den Opfern des Holocaust ganz zu schweigen.

Und doch wage ich zu sagen, dass dies immer Krisen waren, die ein wacher Geist, ein waches Bewusstsein erlebten. Jeder individuell. Tausendfach. Millionenfach. Jesus am Kreuz, der die Betäubung ablehnte, ebenso. Die Krise unabwendbar. Was passiert jetzt mit mir?

Aber was macht ein Bewusstsein, das sich nicht mehr findet? Ein verlorener Geist. Früher hätte man Besessenheit sagen dürfen. Ein fremder, ein böser Geist, der den Besitz übernommen hat über einen Menschen.

Lisa sprach diesen Arbeitern im Weinberg Lob und Respekt aus und dankte für ihren Dienst, und vergaß nicht, zu erwähnen dass treue Gebetskreise für sie beten. Dann fuhren sie weg. War das heute das letzte Mal, dass sie hierher gerufen werden?

Wir verteilten unsere Essen, und alle öffneten ihre Türen und es schien, dass alle hofften, dass dieser eine Bewohner nicht auftaucht und sie wollten das Essen schnell annehmen. Ja, ein bisschen surreal war das schon.

So konnte ich gerade mit Rene ein paar Worte wechseln und mit Carsten. Und gerade, als wir losfahren wollten, kam dieser Bewohner heraus an den Parkplatz und heulte und bettelte und es war so erbärmlich, aber wir kennen es ja schon. Dieser Mann in seiner Not. Wer kann so etwas ertragen?

Und jetzt kann man fragen, wo bleibt unsere Liebe, wo bleibt unsere Contenance? Ok, Contenance hatten wir. Aber doch sehr defensiv. Abwartend. Wir sind auch nur hilflos. Wir können ihm nicht helfen. In diesem Zustand ist keine Hilfe möglich. Selbst Professionelle geben auf und sind froh, dies nicht mit ansehen zu müssen.

Lisa bat mich, ihm 2 Euro zu geben, aber ich hatte keine 2 Euro und ging zurück zum Wohnhaus und lieh mir von einem anderen Bewohner das Geld. Als ich es gab, bedankte er sich übertrieben. Lisa sagte ihm mit ihrer strengen Stimme (Kindergärtnerinnen-Stimme), dass er es nicht wagen solle, bei uns zuhause aufzutauchen. Denn das haben wir auch schon erlebt.

Das Besondere an dieser Situation ist, dass absolut keiner in der Lage ist, diesem armen Mann zu helfen. Er lehnt alle Hilfen ab. Gibt es eigentlich noch Einrichtungen für solche Menschen? Wo kann man sich in Würde zu Tode trinken oder Drogen bis zur Besinnungslosigkeit konsumieren? Wobei ich wirklich auf Alkohol verzichten würde, denn es gibt sozialverträglichere Drogen. Irgendwelche Drogen, die das Leid dieses Menschen lindern. Keine billigen Ersatzstoffe. Das gute Zeug. Ich habe keine Ahnung. Und es ist so schlimm.

Und so komme ich von ihm zu den anderen Bewohnern mit ihren verfaulenden Beinen, und denen, die ihre Tage mit Konsum und Beschaffung von Drogen vergeuden, denen, die keine Hoffnung mehr haben. Hier in dieser Unterkunft, wo das Elend kumuliert.

Ich bin absolut dafür, dass man ein Leben ohne den Ballast, ohne die Ketten einer Sucht leben sollte. Weil das Leben einfach schön ist oder schön sein kann. Nicht immer natürlich, nicht 24/7. Höhen und Tiefen. Aber bitte erwachsen, kein Streben nach „glücklich“. Glück, diese untreue Schlampe.

Mit unseren Besuchen wollen wir Hoffnung bringen und Trost. Eine Alternative. Praktische Hilfe. Und auch eine neue Schlafgelegenheit.

Nachdem wir zuhause waren, erhielt ich einen Anruf, dass wir heute noch das Schlafsofa bekommen könnten, das ich Rene versprochen hatte. Ich hielt Rücksprache und klärte es, dass Regine und Alfred kommen konnten. Glücklicherweise war inzwischen alles wieder ruhig. Ich empfing die beiden, während Rene den Boden wischte und mit einem Staubsauger ohne Saugleistung, den Teppich saugte.

Beide waren tough genug, mit der entspannteren, aber dennoch für die beiden ungewohnten Umgebung umzugehen. Da ich sie beide hoffentlich bald wiedersehen werde, bin ich auf ihren Eindruck gespannt.

Ich blieb noch bei Rene, Armin und Pierre und wir unterhielten uns. Ich erfuhr sehr vieles von Rene und Pierre und ich erzählte ihnen von meiner Vergangenheit. Ich konnte auch darüber sprechen, warum ich glaube und was es mir bedeutet. Ich blieb fast drei Stunden, es war mein Wohnzimmer, obwohl ich sicher war, dass Lisa mich sofort unter die Dusche schicken würde und meine Kleider in die Waschmaschine stecken würde, denn alles roch nach Rauch.

Wo ist der Gedanke der Gnade zu sehen? Ich glaube, dass wir in jeder Begegnung die Chance haben, Menschen in ihrer einzigartigen Not zu sehen und zu erfahren, wie Mitgefühl schmeckt. Leonard Cohen singt so schön: „There is a crack in everything. That’s how the light gets in.“ Das Licht. Unser Licht. Das Licht des Glaubens an Jesus Christus. Nicht unser Ego. Nicht unsere Rechtschaffenheit. Ich bin froh, dass es immer weiter geht. Vielleicht gibt es auch für diesen einen Mann eine Lösung, obwohl ich sie nicht sehen kann. Ich weiß, er sucht den Frieden mit sich selbst. Er rief auch schon zu Gott. Aber die Dämonen sind in ihm und sie halten ihn gebunden. Kann der Glaube helfen? Was muss passieren, dass er diese Gnade erfährt, die schon viele, auch mit schlimmen und schlimmsten Erfahrungen erhalten haben?