Funkstille

Manchmal möchte man einfach etwas kaputtschlagen. Aber das wäre vermutlich ein infantiler Akt. Mein Verstand kann diese Impulse auch jederzeit erkennen und unterdrücken. Trotzdem wäre es schön.

Lisa und ich waren heute am Bahnhof und wollten etwas in der Packstation deponieren. Gerade, als ich wieder losfahren wollte, sah ich einen unserer Freunde. Nicht von der Schießmauer. Er hatte vor einigen Tagen Geburtstag und ich wollte ihm nachträglich gratulieren. Lisa war zuerst bei ihm. Mit ihrer herrlichen und unkonventionellen Art sang sie ihm „Viel Glück und viel Segen“ zu.

Als ich die beiden erreichte, wollte ich mich zuerst freuen, aber dann bemerkte ich seinen Zustand.

Mein Eindruck, dass es ihm nicht gut ging, ist nicht aussagekräftig genug. Wir kennen ihn schon viele Jahre. Wir haben seine besseren Zeiten mitbekommen, aber auch seine Tiefpunkte. So weit wir es von außen mitbekommen konnten. Wir mögen ihn sehr.

Heute war vielleicht nicht mal so ein tiefer Tiefpunkt. Doch er war nur partiell ansprechbar und wir empfanden beide tiefes Mitleid. Ich weiß, das ist falsch, aber es war dieses Gefühl. Ein Mitgefühl, das mich übermannte. Gleichzeitig war ich so wütend, denn er ist ein Mann, der tief in seiner Sucht gefangen ist. Ich werde wütend auf Drogen, darauf, den Wunsch zu haben, sich abzuschiessen, wütend auf das „System“, das Menschen wie ihn oder meinen eigenen Sohn so weit kommen lässt, einfach wütend auf alles. Und gleichzeitig spürte ich einen Impuls, ihn zu trösten, in den Arm zu nehmen. Aber es war leider nicht möglich.

Wie beschreibt man so einen Zustand? Leicht überdosiert? Untertrieben. Von was? Ich fragte ihn, und er sagte es mir. Jetzt war mir klar, weshalb er nicht wirklich ansprechbar war. Das war kein Hoppala, kein Unfall. Klar, Sucht. Substanz A und Substanz B in gewisser Menge konsumiert, führt zu diesem Zustand. Warum sollte man sich so abschiessen wollen. Einmal? Zehnmal? Jedesmal? Es passiert einfach zu oft. Dabei ist es unnötig. Mit der Substitution von billigen Ersatzstoffen fördert man Querkonsum. Es ist einfach so, dass diese Stoffe kein High erzeugen, sondern ein dumpfes Low. Unecht. Fake. Warum, wenn schon Substitution, nicht ein echtes Opiat verschreiben? Der Beikonsum würde sinken. Es würde den Süchtigen helfen, ihre Gesamtsituation zu stabilisieren. Meine Meinung. Wird auch jeder Süchtige bestätigen. Das Elend ist gewollt. Ein Leben, dessen Sinn man noch nicht gefunden hat.

Es existiert ein gesteigertes Bedürfnis bei Süchtigen, dieser Existenz zu entfliehen. Transzendenz. Das Auflösen. Das nicht existent-sein. Den Schmerz, das Wissen, sein Leben mit einer falschen Entscheidung nach der anderen gelebt zu haben, nicht mehr zu spüren. Welchen Sinn hat so ein Leben überhaupt? Beziehungen scheitern, Träume erfüllen sich nicht. So weit eigentlich normale Härte. Wie wäre es damit, ein ganz normales Leben zu leben? So weit weg, so unerreichbar?

Opiate packen dich warm ein. Es ist wie ein warmes Bad. Natürlich gibt es auch den Süchtigen, der einfach nur überdosiert. Das hat allerdings soziale Konsequenzen. Bei einer richtig dosierten Substitution mit echten Opiaten kann man sogar einer geregelten Arbeit nachgehen. Das funktioniert bei vielen auch mit Methadon, dem üblichen Ersatzstoff, jedoch ist der industriell hergestellt und hat nicht diese angenehme Eigenschaft.

Was gegen Heroin spricht, ist, dass man der Meinung ist, dass der Süchtige gar keinen Anreiz hätte, ein drogenfreies Leben zu leben. Das ganze bisherige Leben eines Süchtigen, oft sind es Scherbenhaufen, wird erträglicher. Man bekommt sein tägliches Quant und richtet sich ein. Die Gesellschaft möchte das nicht. Die Gesellschaft möchte einen Steuerzahler. Es wird zu wenig diskutiert, ob ein Substitutionsmittel seinen eigentlichen Zweck erfüllt. Ich erlebe es immer wieder, dass Leute aus dem Substitutionsprogramm fliegen, weil sie Beikonsum haben. Selber schuld, heißt es. Die Kollateralschäden werden hingenommen. Es wird ein Druck aufgebaut, der unnötig ist. Man geht davon aus, dass der Leidensdruck nur entsprechend hoch sein muss, damit ein Süchtiger sich entschließt, eine Therapie zu machen. Ich behaupte – und das ist jetzt mehr als ein Bauchgefühl, dass die Heroinprogramme in den verschiedenen Städten viel erfolgreicher laufen, als die Methadonprogramme. Ich hoffe nicht, dass es auch hier langfristige Verträge mit der Pharmaindustrie gibt, soundso viel Dosen abzunehmen. Am Preis kann es nicht liegen. Es sind Pfennigprodukte.

Zurück zu unserem Freund. In seinen besseren Zeiten hat er schon versucht (nach wie vielen Versuchen?), beruflich Fuß zu fassen, einfach normal sein. Aufstehen, zur Arbeit gehen. Wir haben ihn ermutigt. Damals. „Ja, es ist möglich!“ Es hat funktioniert. Er war motiviert. Und dann? Doch wieder Beikonsum? Vielleicht war da wieder diese Leere. Vielleicht war dieses Loch, das alte Riesen-Vakuum. Da, wo bei glücklicheren Menschen schöne Erinnerungen sind, Hoffnungen, Träume, Liebe. Glaube? Einen Frieden gebe ich euch, sagte Jesus.

Da ist dieses dunkle, kalte, schwarze Loch. Und dann ist man wieder mitten drin. Gerade noch frei und schon wieder Sklave. Er war früher regelmässig im Brunch, auch bei der Friends Time hat er uns besucht. Leider ist er einfach viel zu ehrlich. Er glaubt vielleicht, er sei nicht gut genug. Oder wir Christen wären so heilig oder so unecht. Fakechristen. Vielleicht denkt er, er könne nur zum Glauben kommen, wenn er schon heilig ist. Oder wenigstens nicht so zerbrochen. Diese Ehrlichkeit mag ich an ihm. Andererseits ist sie eine sehr destruktive Kraftquelle. Nicht nur bei ihm, sondern bei allen verlorenen Menschen, süchtig oder nicht süchtig. Sie hält sie davon ab, zum Heil zu gelangen, den Segen zu empfangen, inmitten des neuen Königreiches zu leben. Es ist so falsch, denn Jesus ist gerade nicht zu den Heiligen gekommen, zu denen, die sowieso schon meinen, sie wären gut genug. Nein, er wollte die Zerbrochenen, diejenigen, die verzweifeln, die leiden. Nur ihnen kann Jesus die Heilung bringen.

Unser Freund hat hoffentlich seinen Weg nach Hause gefunden. Vielleicht zu seinen Eltern, die genau wie alle Eltern drogensüchtiger Kinder so sehr leiden. Auch darüber, dass sie erkannt haben, dass sie daran nicht zerbrechen dürfen, ihr Kind leiden zu sehen. Die hoffentlich ein Leben haben.

Auch für sie hat Jesus seine Arme weit geöffnet. Wartet ebenso auf sie, wie der Vater, der auf seinen Sohn wartet, der verloren war und dann endlich kam, als er erkannte, wie falsch sein Leben verlief. Die Eltern trifft keine Schuld. Das ganze Schuld-Ding ist irrelevant. Und? Jeder hat Schuld. Die Schuld ist schuld. Auch sie sind verloren. Sie wissen es, der Sohn weiß es, die Tochter weiß es. Everybody knows.

Vielleicht kennen wir dieses Leben nicht. Vielleicht haben wir alle anderen alles richtig gemacht. Und doch gibt es in vielen Familien dieses nicht endende Leid.

Plötzlich ist Funkstille. Tagelang kein Lebenszeichen. Ruft das Krankenhaus an, die Polizei? Gestern noch hier. Status? Seit ein oder zwei oder seit wie vielen Tagen offline. Früher hat man herumtelefoniert. Das war sinnlos und ist lange vorbei. Die Angst, das eigene Kind könnte irgendwo in der Ecke liegen und Hilfe brauchen oder es wäre zu spät dafür.

Dabei gibt es doch gerade deshalb diese Handys. Damit man erreichbar ist. Damit man keine Ängste mehr kennt. Damit man Klarheit hat. Hier sind 15 Euros für SIM. Online aufgeladen. Und die Kinder benutzen sie nicht! Eltern werden ignoriert. Am Telefon möchte man nicht lügen müssen. Später kommen Ausreden, wie Akku leer, kein Empfang. 🔋 Wer’s glaubt wird selig.

Glücklich die Eltern, die die Sorge um ihre Kinder zu Jesus bringen können, die ihre Ängste im Gebet abgeben und Segen empfangen. Du und dein Haus werden gerettet. Vermutlich müssen Eltern süchtiger Kinder weiter leiden. Es sind unsere Kinder. Aber es gibt Erlösung. Die Hoffnung auf Erlösung auch für die Kinder, die Hoffnung auf Erlösung für alle im Himmel.

Vielleicht ist alles nur ein Kommunikationsproblem. Unsere Antennen sind nicht auf Gott ausgerichtet, wir erhalten keine Botschaften von Gott. Wir erhalten keine Leitung und Führung, sondern irren umher. Disfunktionale Familien, Liebesunfähigkeit. Dann noch diese Identitätspolitik. Der letzte Schrei. Noch mehr Verwirrung. Selbstverwirklichung. Wenn das nicht geht, Opferrolle. Unsere Antennen empfangen immer noch nichts. Oder bekommen Fehlsignale. Wir sind so manipulierbar. Das Gute ist, es gibt immer Hoffnung. Es gibt auch für manche schlimmen Dinge Lösungen. Ich glaube, auch das müssen wir ins Gebet einbringen. Schenk uns Weisheit, neue Lösungen zu erkennen. Schenk uns Kraft, Dinge zu ändern. Aber wir müssen den Empfänger einschalten. Gott sendet immer. Eine Funkstille gibt es bei Gott nicht.