Du lass dich nicht verhärten

Nichts ist OK. Wir waren wieder unterwegs, um die Samstags-MAHL-Zeit zu verteilen. Heute gab es Hackbraten. Sah lecker aus, schmeckte auch lecker, wie uns gesagt wurde. Zusätzlich gab es noch Bananen und Milchreis, die wir verteilen durften.

Wir fuhren also in die Schießmauer. Ich wusste nicht, was mich erwartet, weil es Monatsende war. Diese Tage sind eher kritische Tage. Doch ich bemerkte schnell, dass die Stimmung nicht gut war. (Ich bin mit der Gesamtsituation unzufrieden)

Das „Gehalt“ vom Jobcenter war schon gekommen. In der Regel waren die letzten Tage eher von Bruder Schmalhans geprägt. Große Sprünge kann man sowieso nie machen. Dazu reicht dieses „Gehalt“ von 446 Euro, also fast 15 Euro pro Tag nicht. Wobei das auch schon der idealisierte Betrag ist. Meistens werden davon auch noch Schulden beglichen, oder das Jobcenter zieht schon etwas ab. Zum reinen Überleben steht also selten dieser Betrag zur Verfügung.

Vielleicht kumuliert an diesen Tagen auch Einiges? Frust macht sich Luft, gemischt mit Enttäuschung oder Unzufriedenheit oder was auch immer. Lisa hat gleich gesagt, wir wären die Schweiz. Neutral. Wir können uns nicht in Konflikte einmischen. Partei ergreifen. Trotzdem haben wir uns die Seiten angehört und Ratschläge gegeben: Mach doch einfach so! Es ist nicht leicht, aber wir müssen da durch! Oder: Dann mach doch du selbst! Hab Nachsicht!

Es ist nicht lediglich eine suboptimale Situation in diesen Containern. Die müssten längst erneuert sein. Jeder braucht seine eigene Küche und seine eigene Toilette. Man kann doch nicht erwarten, dass es da auf Dauer gut geht.

Irgendwie erinnert das an offenen Vollzug. Nein, nicht ganz, denn gerade ist ja kein Lockdown. Kann sich aber schnell wieder ändern. Und außerdem gibt es im offenen Vollzug ja auch Wärter. Hier sind Menschen – und keiner kann das bestreiten – in Krisensituationen. Menschen, die nicht mehr in der Lage waren (oder sind), ihre eigene Wohnung zu halten. Da sind Menschen, die mit sich, mit ihrem Leben, mit der Gesellschaft hadern. Man sollte auf keinen Fall erwarten, das diese Menschen vor lauter Dankbarkeit ein frohes und glückliches Leben leben. Es ist halt anders. Man kann sich fragen, seit wievielen Jahren es halt anders ist? Man kann sich fragen, wen diese Menschen überhaupt interessieren?

In unserem Hauskreis hatten wir letztens ein interessantes Thema. (Danke für diese Inspiration, H.) Wir Christen haben ja, wie jedes Jahr, eine Jahreslosung, die da lautet: Seid barmherzig, wie auch euer Vater im Himmel barmherzig ist. Steht im Lukas Evangelium 6,36.

Interessant wird es, wenn man fragt: „Wer weiß, was barmherzig ist“? Auch ich hatte spontan keine gute Definition. Dabei ist dieses Wort aus alter Zeit, das keiner mehr selbst benutzt, ein wirklicher Schatz. Ein Kleinod. Obwohl wir alle nicht wissen, was barmherzig bedeutet, wissen wir doch ganz genau, was Unbarmherzigkeit ist. Keiner will es sein, aber wenn wir mal in unserem Leben schauen würden, dann würden wir erkennen, dass wir mehr unbarmherzig sind als barmherzig. Für manche, die noch besser verstehen wollen, was barmherzig bedeutet: Lest einmal Lukas 10, da kommt das Gleichnis vom barmherzigen Samariter vor. Ja genau, in der ollen Bibel.

Und mir kommt es wirklich so vor, als ob unsere Schießmauer eine Analogie mit diesem Gleichnis erzählen kann. Auch diese Menschen sind unter die Räuber gefallen. Ausgeraubt und zerschlagen. Nur der Samariter kam noch nicht. Aber dafür gehen viele ehrenwerte, rechtschaffene Menschen vorbei.

Wer hilft, diesen Menschen wieder auf die Beine zu helfen? Das ist mehr als nur eine rhetorische Frage. Geht das überhaupt? Mit Kleinglaube kommt man nirgendwo hin. Gibt es woanders nicht auch Leid und Not und Elend? Stimmt. Also doch lieber Klima retten?

Du lass dich nicht verhärten in dieser harten Zeit.

Wolf Biermann (1974)