Broken Windows

Herrenberg hat ein paar Notunterkünfte und dort wohnen Menschen, die ihre Wohnungen verloren haben. Hab ich schon erzählt.

Viele fragen sich vielleicht, wie kann man seine Wohnung verlieren? Was muss da passiert sein? Ich kann euch sagen, das passiert ganz schnell. Ich kenne einige Menschen, die vorher eine eigene Wohnung hatten und jetzt in der Notunterkunft untergebracht sind. Manchmal war Überschuldung ein Grund. Vielleicht waren einige in prekären Beschäftigungsverhältnissen, dann kam der Verlust des Arbeitsplatzes.

Vielleicht war zudem Unkenntnis über staatliche Unterstützung zur Vermeidung von Wohnungsverlust ein Grund. Wer keine Erfahrungen mit öffentlichen Institutionen hat, wer keine Hilfen in Anspruch nehmen kann, wer keine Rücklagen hat, kann seine Miete, Strom oder Gas, Telefon, Internet irgendwann nicht mehr bezahlen. Alles wird vom Konto abgebucht. Das Konto wird überzogen. Vielleicht gibt zusätzlich noch Raten für Konsumkredite. Das ist dann nicht mehr zu stemmen.

Die Forderungen häufen sich, Inkasso schaltet sich ein, das ist eine Spirale, die man nicht einfach unterbrechen kann. Da ist keine Familie, die man um Hilfe fragen kann, weil Familie schon immer disfunktional war. Gerade in Deutschland habe ich den Eindruck, dass es keine funktionierende Familien gibt. Scheidungen haben Familien auseinander gerissen. Mein Bauchgefühl (ohne genaue Zahlen zu kennen) sagt mir, dass jede zweite Familie getrennt wurde. Eher mehr?

Zurück bleiben Opfer. Verbrannte Erden.

Es ist nicht Gottes Plan, dass Familien, dass Ehen auseinander gerissen werden. Die Floskel, bis der Tod euch scheide, wird im Standesamt meist gar nicht mehr verwendet, weil die Realität eine andere ist.

Heiraten ist grundsätzlich die einzig richtige Entscheidung, wenn Menschen einander liebend zusammen kommen. Heiraten ist ja so romantisch. Wie wenig die Realität von Gefühlen beim Hochzeitsakt verstanden wird, ist erschreckend. Beziehung, Ehe ist harte Arbeit.

Trennungen sind also ein Faktor bei Menschen, die in der Notunterkunft untergebracht sind. Suchtkrankheit muss ich, glaube ich, nicht besonders erwähnen. Psychische Probleme bei Bewohnern von Notunterkünften kann man auch oft sehen. Und so oft ist es von jedem etwas. Mehrfachdiagnose. Damit erübrigt sich auch ein gefälliges „Selber schuld“.

Heute waren wir wieder in den Notunterkünften. Die Samstags-Mahl-Zeit war heute wieder dran. Anna von der Metzgerei Gerullis hat Putenschnitzel mit Reis und Salat gekocht. Beate brachte zusätzlich kleine süße Tütchen mit je zwei Muffins und Kaffestick mit, die wir auch verteilen durften.

Heute war es angenehm. Alles aufgeräumt. Wir haben nicht alle gesehen, nur Alex, Olaf, Rene, Michael, Carsten und Dietmar, aber wir wurden freundlich begrüßt. Ein Fenster im Erdgeschoss ist seit Wochen eingeschlagen und wird nicht repariert. Die Räume könnten allesamt einen frischen Anstrich gebrauchen. Der Außenbereich ist seit Manfreds Tod in keinem besseren Zustand. Manfred hat den Außenbereich verschönert. Steine angemalt. Er war der Hobby-Gärtner, der auch die eine oder andere Pflanze zur Verschönerung einpflanzte.

Es sieht so aus, als ließe man (auch seitens der Stadt) alles verkommen und sich selbst überlassen. Kein Interesse, diesen Ort schön zu gestalten. Die Investition in diese Notunterkunft war vermutlich einmalig. Weiteres Geld ist nicht eingeplant, wie es aussieht. Der provisorische Charakter ist unverkennbar. Dass aus dem Provisorium inzwischen langjährige Dauereinrichtung geworden ist, wird genau so toleriert.

Es scheint keine Pläne zu geben, den etwa 100 Menschen in Herrenberg, die notweise untergebracht sind, eine bleibende Einrichtung zu errichten oder zu finanzieren.

Das sind die Slums von Herrenberg. Der aktuelle Bauboom mit Wohnungen, in die nie sozial schwache Menschen einziehen werden ist die Fassade für eine Mitmachstadt die die Demokratie lebt. Vermutlich klimaneutral, nachhaltig, und welche Keywords so gerade in sind. Diese Orte hier sind definitiv Orte, die man verstecken oder unsichtbar machen will.

Die „Broken Windows Theorie“ besagt, dass wenn irgendwo ein Fenster eingeworfen wurde, die Zeit, bis das nächste und weitere Fenster ebenso eingeschlagen werden, immer kürzer wird. Die Hemmschwelle, ein Fenster einzuschlagen, hingegen steigt, wenn der Ort, das Stadtviertel oder wie man so schön sagt, das Quartier gepflegt wird.

Der Zustand dieser Orte repräsentiert eine Haltung des Ignorierens, des Ausblendens. Von Süchtigen kennt man das, wenn Rechnungen nicht mehr geöffnet werden, in der Schublade landen. Was man nicht sieht, existiert nicht. Das ist unreif. Die Stadtverwaltung verfolgt eine ähnliche Strategie, könnte man meinen. Welche Anstrengungen werden unternommen, um diese Orte zu verschönern? Welche Anstrengungen werden unternommen, um Menschen wieder in reguläre Wohnungen zu bringen? Spricht man in Gemeinderatssitzungen zum Beispiel darüber? Oder nur vor der Wahl? Virtuelles Signalisieren. Es kommt nur darauf an, dass man etwas gesagt hat. Irgendwann. Doch welche Taten folgen daraus? Vergleichen wir Herrenberg nicht mit Städten, wo es ähnlich oder noch schlimmer ist. Vergleichen wir Herrenberg mit positiven Beispielen. Holen wir diese Menschen ab und helfen, ihnen ihre Würde zurück zu erlangen. Obwohl jeder Mensch eine Würde hat, wird, wie hier ersichtlich, darüber hinweg geschaut.

Wir hatten eine Begegnung mit Dietmar, der sich Hoffnung macht, aus der Notunterkunft ausziehen zu können. Er strahlte vor Freude, obwohl er noch gar keinen Vertrag hat. Ich hoffe sehr für ihn, dass sich alles fügt und er diesen Ort verlassen kann. Andere haben weniger Hoffnung. Wo soll diese Hoffnung auch herkommen. Ich versprach Dietmar, für seine Wohnung zu beten.

Unser Verein spricht diesen Mangel an. Wir versuchen aber auch, neue Wege zu beschreiten, indem wir uns Gedanken darüber machen, wie wir konkret helfen können.

Vielleicht geht das über neue Konzepte, die wir gerade vorbereiten. Wir möchten einen ganzheitlichen Ansatz umsetzen, bei dem auch die Betroffenen in Verantwortung kommen. Das Gefühl erhalten, wieder gebraucht zu werden. Dazu brauchen wir natürlich Unterstützung. Wer sich darüber informieren möchte, darf uns gerne schreiben:
kontakt@freunde-herrenberg.de
oder
vorstand@freunde-herrenberg.de