Begegnung der 3. Art

Ich war heute mal wieder in der Schießmauer. Heute ist (immer noch) einer der heißesten Tage des Jahres. Darum wollte ich früh losgehen und traf mich mit Sascha am Parkplatz Schießtäle. Wir fuhren rüber zur Schießmauer und trafen dort auch Leute an. Einige waren schon unterwegs. Der frühe Vogel fängt den Wurm. Wir hatten Vespertüten dabei, die Beate und Elke gepackt haben. Unsere Aufgabe bestand nun darin, zu unseren Freunden, ja richtig, Freunden, nicht Klienten, zu gehen, und die Tüten abzuliefern. Nicht jeder war da oder wach, aber ein paar Türen wurden uns aufgemacht.

Inzwischen sind auch vorher unbekannte Namen Gesichter. Reale Menschen, und uns sehr wertvoll. Ein freundlicher, russisch-stämmiger Russe, nahm die Tüten und das Paket Kleidung für seinen Mitbewohner in Empfang. Ich grüßte und blickte in gute Augen, nicht getrübt, sondern klar. Nennen wir ihn Alex, aber bitte ruuusisch aussprecken. Was sucht er hier in dieser Notunterkunft? Könnte er nicht ein Leben in einer schönen, kleinen Wohnung leben? Arbeiten gehen? Alles andere, als hier zu wohnen? Was ist seine Geschichte? Wie kommt er so jung in solch eine Situation? Hat er es verdient, so zu leben? Ich erinnere mich an den verlorenen Sohn, der am Ende aus lauter Not das Schweinefutter essen will, doch auch das wurde ihm verwehrt. Und dass er sich daran erinnert, dass sein Vater sogar seine Knechte besser behandelt, als es ihm ergeht. Dass er sich aufmacht, zurück zu seinem Vater und der ihn mit offenen Armen empfängt und ihn wieder in das Erbe einsetzt. Wann macht sich unser Alex auf? Ist die Situation nicht erbärmlich genug? Was muss noch passieren?

Natürlich ist Alex ein verlorener Sohn und der Vater ist unser Herrgott, der sehnsüchtig auf ihn wartet. Auf was wartet Alex noch? Auf was warten die anderen Bewohner noch? Natürlich spreche ich keinem Hoffnung ab. Selbst unter diesen Umständen haben sie Hoffnung. Auch Alex. Jeder einzelne. Ganz sicher. Und ganz sicher hat jeder schon versucht, mit diesem Fünkchen Hoffnung, sich aufzumachen und wenigstens die Situation zu ändern oder aus ihr heraus zu kommen.

Ich bemerkte einen Mann, der sich das Gebäude ansah und begrüßte ihn und fragte, ob er etwas suche. Dann erklärte er, dass er einer der Feuerwehrmänner war, die den Brand gelöscht hatten. Die Männer, die am früh am Morgen gerufen wurden und schließlich den Bewohner gefunden hatten und nun mit diesen Bildern klar kommen müssen. Er sagte uns seinen Namen, Ralf, und wir hörten seiner Geschichte zu, die ihn sichtlich immer noch berührte. Wie es sein kann, dass Menschen so leben können. Beziehungsweise so leben müssen. Ein paar Mal ertappte ich mich beim Zuhören, dass ich die Lage schon relativiere, weil ich es gewohnt bin. Ja, ich nahm unsere Stadt noch in Schutz, aber nur, weil ich weiß, es geht noch schlimmer und weil ich selbst einer dieser Menschen bin, die ihr Heim nicht öffnen und jemanden aufnehmen, der zwar bedürftig ist und in echter Not, aber dann die Verantwortung der Stadt und seinen Einrichtungen abschiebe. Unsere Freunde nehmen sogar Menschen auf, nicht ganz offiziell, und temporär, weil sie die Not anderer ganz genau kennen. Und ihre Erfahrungen sind oft nicht gut, aber hey, man kann doch nicht so hartherzig sein.

Ralf formulierte genau das, was wir schon lange sagen, nämlich dass man diesen Männern helfen muss, ein menschenwürdiges Leben zu führen. Ganz konkret auch, welche Hilfen jeder einzelne geben kann. Das muss auch kein Bett im eigenen Heim sein. Vielleicht Angebote, wie niederniederschwellige Hilfen, den Leuten Chancen geben, in Arbeit zu kommen, im Tischtennis-Verein Freunde finden. Ja, es war echt gut, dass wir gerade da waren, und wir uns unterhielten.

Was ist mit unserer Stadt Herrenberg? Der Modellstadt. Der Mitmachstadt. Kann ein allseits geschätzter Oberbürgermeister einmal vorbei kommen? Vielleicht gerade mal Samstagmittag, und sich die Situation ohne andere Großkopfete vorurteilsfrei anschauen? Vielleicht bekommt er ein Herz für diese Menschen. Nicht dass ich ihm unterstelle, er hätte keins. Die Stadt ist natürlich ein Unternehmen. Eine Firma. Klar kann diese Firma sagen, auf gut deutsch, geht mir am Arsch vorbei. Vielleicht wäre das ehrlicher. Und sicher will man kein Magnet sein, dass Bedürftige nach Herrenberg kommen, dieser Modellstadt, weil hier die Menschenwürde neu entdeckt wurde.

Es braucht mehr Männer, wie Ralf, die diesen Blick finden, dass hier echt was passieren muss. Und natürlich schließen wir nicht gleich eine Lebensversicherung ab oder kaufen einen Staubsauger. Diese Not hautnah zu erleben ist nicht leicht. Harter Tobak. Ich möchte aber speziell Männer ansprechen und ihnen sagen, was ihr meinem Geringsten getan habt, das habt ihr mir getan. Habt Mut. Seid Männer!